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    MARIEMMA und RASCHID

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    M o r a v o d, G e l t i n , G a s t h a u s z u m B e t t l e r s c h r e c k 

    ( auf ASADI) 




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    WEI LANS Schuppenhand

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Raschids Geschichte

 von Birgit Alpers


Teil I

 

Raschid wurde sechs Tage vor dem zweiten Sommer-Vollmond geboren. Idrissa und Mariemma 15 Tage später. Bei Beginn seiner ersten Salzkarawane war er 15 Jahre und vier Monde alt. Die erste und die zweite Reise verliefen planmäßig und ohne große Zwischenfälle.

Auf seiner dritten Salzkarawane im Alter von 17 Jahren erfährt Raschid, wie gefährlich die Wüste wirklich sein kann. Schon auf dem Hinweg waren einige Nächte in den toten Hügeln voll unheimlicher Geräusche gewesen. Die Alten erzählten, das seien Geister, sich hier herumtrieben, doch man konnte die toten Hügel nicht umgehen, weil es nur hier Wasser gab. Niemand hatte geschlafen in diesen Nächten. Die Menschen nicht, und die Kamele auch nicht. So hatten sie die harten Tagesetappen nicht geschafft, und die Reise hatte drei Tage länger gedauert als vorgesehen. Während die Männer mit dem Salzabbau beschäftigt waren, hatten sich die Kamele zwar aber wieder ausruhen können, doch es gab dort keine Weiden und kein Wasser, so dass sowohl Menschen als auch Kamele von mitgebrachtem Proviant hatten zehren müssen. Einen Tag hatten sie durch verehrte Kraftanstrengung beim Salzabbau wieder eingespart, so dass sie den Zahran-See mit nur zwei Tagen Verspätung wieder verlassen hatten.

Mit gekürzten Rationen hatten sie die erste Oase nur mit Mühe erreicht, und dort hatten sie den Kamelen eine Extra-Woche Erholung gönnen müssen. Mit einer Woche und zwei Tagen Verspätung waren sie weiter zur nächsten Oase gereist, wo bis zur letzten Oase zunächst alles nach Plan verlaufen war.

Nachdem sie die letzte Oase hinter sich gelassen hatten, mitten im Erg Achab waren sie in einen Sandsturm geraten, der drei Tage gedauert hatte. Drei Tage, an denen von den mitgebrachten Vorräten an Nahrung, Wasser und Kamelfutter gezehrt werden musste, ohne dass sie dem heimatlichen Lager näherkamen. Und als wäre das allein nicht schlimm genug, hatte sich auch noch sein Vater Areschar Ag Liam der Anesbarid, (Anführer) der Karawane eine so schwere Bindehautentzündung zugezogen, dass er fast nichts mehr sehen konnte. Nun musste Malik Ag Amestan, Raschids älterer Cousin und Schwager die Karawane nach Hause führen, und dabei mit reduzierten Vorräten an Kamelfutter, Wasser und Nahrung auskommen. Aber er hatte es geschafft.  Drei Wochen später als geplant erreichte die Karawane einen Tag vor dem Frühlingsvollmond endlich das heimatliche Lager. Alle hatten überlebt, selbst die Augen seines Vaters wurden später wieder gesund. Raschid aber war danach nicht mehr derselbe, wie vorher.

 

 

Die Überlebenden

 

Während Layla, eine hübsche junge Taklit[1], den Esel mit den Wasserschläuchen in das Lager führte liefen die Kinder, die sie begleitet hatten, aufgeregt an ihr vorbei.

„Die Karawane ist zurück, Ormut sei Dank!“ riefTafsutUlt Malik und rannte zum Zelt ihrer Mutter.

„Ich hab sie am Brunnen gesehen. Sie tränken die Kamele.“ Innerhalb kürzester Zeit versammelten sich alle daheim gebliebenen um sie herum und Tafsut genoss die Aufmerksamkeit.

„Vater kommt heim, und Onkel Dagansi und Onkel Kaihala und alle anderen auch.“

„Sie sind alle da“ ergänzte ihr älterer Bruder Tariq Ag Aghilas, der ihr etwas würdevoller gefolgt war.

Derweil fiel Tafsut ihrer Mutter Tudert Ult Amenay freudig in die Arme, und auch ihre Großmutter Garmiya Ult Kherem seufzte erleichtert auf. Dann besann sie sich auf ihre Würde als Asad-Frau und riss sich zusammen.

„Gut“ sagte sie schlicht zu den Kindern. „Nun geht, sagt den anderen Bescheid und lasst ein Willkommens-Essen für alle vorbereiten.“ Tafsut stutzte, doch ihr Bruder zog sie mit sich und beide eilten davon.

„Gelobt sei Ormut“ flüsterte Tudert. „Mein Mann und meine Brüder leben.“

„So wie mein Mann und meine Söhne“. Fügte ihre Mutter hinzu. „Und nun erweisen wir uns unseres Status als Frauen von Asad-Kriegern als würdig. „Wir begrüßen unsere Brüder und Söhne und geben unseren Ehemännern das Gefühl, sie wären niemals fort gewesen.“

„Es war noch nie zuvor so schwer“ sagte Tudert leise. „Sie sind schon so lange überfällig. Was kann sie nur aufgehalten haben?“

Endlich erreichte die Karawane das Lager. Schon auf den ersten Blick sah man den Männern ihre Erschöpfung an, so sehr sie es auch zu verbergen versuchten. Tudert drängte sich durch die Menge zu ihrem Ehemann Malik Ag Amestan, reichte ihm unauffällig eine Hand voll Datteln und wandte sich dann hastig ab, um nach ihren Brüdern zu sehen.

Garmiyas Augen suchten ihre Söhne und fanden Raschid Ag Areschar, ihren jüngsten, der mit seinen 17 Jahren gerade erst seine dritte Salzkarawane hinter sich hatte. Durch die Menge führte er eines der Lastkamele, auf dem sein Vater saß. „Vater ist verletzt!“ rief er. „Und seine Augen sind entzündet. Jemand muss einen Heilkundigen holen.“

Er führte das Kamel zum Zelt seiner Mutter und half seinem Vater hinunter. Müde stützte sich Areschar Ag Liam auf die Schulter seines Sohnes. Den Schesch[2]hatte er bis über die Augen gezogen. Mit vor Anstrengung zitternden Knien führte Raschid seinen Vater zu seiner Schlafstätte, und reichte ihm den Wasserschlauch und eine Hand voll Datteln, die ihm seine Mutter zuvor gegeben hatte.

„Anubi-ni[3]“ flüsterte Garmiya Ult Kherem hinter ihm mit feuchten Augen. „Gelobt sei Ormut für eure Heimkehr.“ Dann schloss sie ihren Sohn in die Arme. Erschöpft lehnte Raschid sich an sie.

„Wir haben drei Tage und Nächte in einem Sandsturm festgesessen, mitten im Erg Achab.“ murmelte er. „Und Vater hat so viel Sand in die Augen bekommen, dass sie sich entzündet haben. Malik musste die Karawane nach Hause führen, weil Vater nichts mehr sehen konnte. Ihm und Ormut verdanken wir unser Leben.“ Doch schon nach wenigen Augenblicken machte er sich los, beschämt über diesen kurzen Moment der Schwäche.

 „Ich bin kein Kind mehr, Mutter“ sagte er ernst. „Die anderen planen gleich, wie weiter verfahren werden soll, da muss ich dabei sein.“ Er wandte sich zum Gehen, doch Garmiya rief ihm nach: "Schlaf heut Nacht bei uns. Ich bereite deine alte Schlafstätte für dich vor." Raschid nickte beiläufig, dann eilte er davon, nahm die Zügel des Kamels wieder auf und zog es hinter sich her zu den anderen. Garmiya vergewisserte sich, dass ihr Ehemann mit allem versorgt war, was er benötigte, dann ging sie wieder nach draußen, um nach Kenan Ag Amenay, ihrem älteren Sohn zu sehen.

Die Männer waren inzwischen dabei, die Kamele von ihren Lasten zu befreien. Nun, eigentlich taten das die Iklan, die Asad gaben lediglich Anweisungen, wobei sie allerdings immer wieder unterbrochen wurden, weil ihre Mütter, Schwestern und Kinder ihnen in die Arme fielen und Ormut für ihre Heimkehr dankten. In der Mitte, umringt von seinen Kindern, stand Malik, mit seiner jüngsten Tochter Samira auf dem Arm und beantwortete Fragen.

„Ist es wahr, dass du die Karawane nach Hause führen musstest?“ fragte sein jüngster Bruder, der 12-jährige Agizul. „Raschid hat das erzählt.“ Malik nickte. „Ich habe nur getan, was nötig war.“ winkte er bescheiden ab. „Jeder hat sein Bestes gegeben, und durchgehalten. Raschid hat mir sogar von seiner Wasserration angeboten, damit ich bei Kräften bleibe.“

Garmiya lächelte gerührt ob dieser Worte. Ihre Augen suchten ihre Söhne und fanden sie Seite an Seite stehend und Decken zusammenrollend.

„Warum erzählt er das allen?“ hörte sie Raschid gerade fragen.

„Ich hab‘ das nur für ihn getan. Weil er der Einzige war, der uns nach Hause bringen konnte, und nicht damit mich alle dafür loben. Außerdem wollte ich ihm zeigen, dass ich kein Kind mehr bin. Nicht Mutters Anubi, und erst recht nicht sein und Tuderts Baby.“

Kenan lachte leise, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen.

„Ja, du hattest es schwer als Mutters jüngstes Kind und Tuderts kleiner Bruder.“ bemerkte er spöttisch.

„Du könntest es aber auch einfach genießen. Erwachsen sein musst du noch früh genug.“

„Ich will ein Anesbarid[4]werden wie Malik, und eine Frau heiraten, die ich so liebe, wie er Tudert liebt.“ gestand Raschid leise. „Ich weiß nur nicht, ob Asara diese Frau ist. Vielleicht finde ich die richtige anderswo, so wie Onkel Irat seine Warda. Wir haben sowieso nicht genügend Cousinen für uns alle.“

„Es passt eben nicht immer, wenn man seine Cousine heiratet“ sagte Kenan langsam und nachdenklich. „Ich weiß auch nicht, ob Manwa und ich noch lange zusammenbleiben. Aber das Gute ist, man kann sich trennen, und eine neue Liebe finden. Die Möglichkeit hast du ja auch, wenn du mit Asara nicht glücklich wirst.“

Nachdenklich rollte Raschid eine Decke zusammen, dann sah er seinen älteren Bruder mit ernstem Blick an.

„Wenn ich heirate, dann soll es eine Frau sein, die ich so liebe, dass ich mich bei jeder Reise darauf freue, zu ihr nach Hause zu kommen. Verstehst du? Eine, nach der ich mich sehne, wenn ich nicht bei ihr bin.“ erklärte er schließlich. „Ich will keine Ehe, an der man nur so lange festhält, wie es nützlich ist.“

Tlaten Ult Azerwal, die hinter Garmiya stand und alles mit angehört hatte, legte ihrer jüngeren Tochter eine Hand auf die Schulter. „Dein Anubi ist jetzt ein Mann, Tarrawt-i[5].“ sagte sie mahnend. „Ein Abarad[6]. Du solltest ihn nicht wie ein Kind behandeln! Sei froh, dass er mehr Glück hatte als damals dein Bruder Mokhtar“

Als sie am frühen Abend endlich alle gemeinsam am Lagerfeuer saßen, und Areschar Ag Liam seiner Genesung entgegen schlief, winkte Malik seinen jüngeren BruderKaihalaund seine Cousins Marli und Raschid zu sich.

„Nun bist du ein Abarad,“ sagte Malik feierlich zu Kaihala und befestigte an dessen Turban das Azerrid n Erslerna[7] das schwarze Band mit jenem silbernen Amulett, welches nur Männer tragen dürfen, die extreme Strapazen überstanden haben, indem sie ihre eigene Schwäche besiegt haben,[8]„ein Abarad wie wir alle.“

Dann wiederholte er dieselbe Zeremonie zuerst bei Marli, dann bei Raschid.

Müde, aber stolz nahm Raschid das Abzeichen entgegen. „Dir gebührt eine Auszeichnung.“ sagte er mit Heldenverehrung in der Stimme. „Dein Stiefvater sollte dich zum Anesbarid ernennen, dann kann er sich zur Ruhe setzten und mein Vater auch. Ohne dich wären wir verloren gewesen!“ Malik deutet auf das neue Djing[9]eines Karawanenführers an seiner Schärpe. Dann legte er seinem jungen Cousin eine Hand auf die Schulter. „Alles zu seiner Zeit.“ sagte er weise. „Ich kann noch viel von deinem Vater und von meinem Stiefvater lernen. Und jetzt geht euch ausruhen, Männer. Morgen ist das Frühlingsfest bei den Kel Tahore, und das wollt ihr doch sicher nicht verpassen. Wir haben allen Grund das Leben zu feiern.“  

Marli wankte davon zum Zelt seiner Frau, während Kaihala sich abseits des Lagers einen Schlafplatz suchte, an dem er sich noch diskret mit seiner Verlobten treffen konnten.

Raschid aber stutzte. „Die Kel Tahore sind hier? Die waren doch in den öden Hügeln geblieben, als wir hierhergezogen sind. Und jetzt sind sie alle hier? Auch Meister Amazzal und Idrissa und Mariemma?“

Malik nickte nur, an diesem Thema nicht sonderlich interessiert.

„Diese Inaden[10]-Geschwister, zu denen du als Kind immer gelaufen bist? Ja, ich nehme an, sie sind auch hier.“

„Sie sind meine besten Freunde!“ betonte Raschid. „Und ich habe sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Sie werden bestimmt beeindruckt sein, wenn ich mit dem Azerrid n Erslerna am Turban bei ihnen erscheine.“ 

Dann wankte er zu seiner Schlafstätte, die seine Mutter wie versprochen für ihn hergerichtet hatte, und brach zusammen. Frühlingsfest dachte er, schon halb im Traum das Leben feiern. Jetzt erst verstehe ich, was das wirklich bedeutet.


 

Festvorbereitungen


 Als Raschid erwachte, war es ungewöhnlich ruhig im Lager. Verwirrt setzte er sich auf und sah sich um. Durch den geöffneten Zelteingang sah er, dass die Sonne ihren Höchststand schon überschritten hatte. Einzig seine zwei Jahre ältere Schwester Tilila war damit beschäftigt, sich von Layla neue Zöpfe flechten zu lassen. Als sie sah, dass er wach war, winkte sie ihn zu sich herüber.

„Na endlich!“ rief sie. „Ich dachte schon, du schläfst durch bis morgen früh. Die anderen sind schon beim Frühlingsfest, aber Mutter meinte, du solltest dich lieber ausschlafen und dann nachkommen. Zum Festessen schaffen wir es nicht mehr, aber zum Ahal[11] müssen wir auf jeden Fall, damit du unsere Familienehre gegen all diese Inaden und Kel Ulli[12]verteidigen kannst. Du wirst bestimmt Eindruck schinden, jetzt wo du ein Abarad bist. Und nun beeile dich, damit wir loskönnen. Du brauchst noch neue Zöpfe und vom gestrigen Willkommens-Essen ist auch noch etwas übrig.“

Raschid, dem die Strapazen der vergangenen Wochen noch in den Knochen steckten, wäre am liebsten liegengeblieben, um durchzuschlafen bis zum nächsten Morgen. Andererseits hatte er Durst, und Tililas Hinweis auf das Ahal belebte ihn mehr als der Gedanke an die Reste des gestrigen Willkommens-Essens. Seit er die Tracht erwachsener Männer tragen durfte, hatte er nur wenige Gelegenheiten ausgelassen, sich bei derartigen Veranstaltungen hervorzutun. Tilila schwang probeweise ihre fertig geflochtenen Zöpfe und wies Layla an, ihnen Essen zu bringen, und Raschids Kamelhengst Atri[13]satteln zu lassen.

„Ich flechte dir neue Zöpfe, Amedray[14]“ bot sie an. „Deine sehen nicht mehr sehr eindrucksvoll aus.“  

„Ich hatte in letzter Zeit anderes zu tun“ seufzte Raschid, der sich noch immer nicht sonderlich erholt fühlte. „aber wenn du darauf bestehst... Ich will nur keine Kinderfrisur, und auch keine Mädchenfrisur. Ich bin ja jetzt ein Abarad.“

Tilila hatte kaum die Zöpfe ihres Bruders fertig geflochten, als Layla mit dem Essen erschien. Sie nickte anerkennend, als Raschid sich kritisch auf der Rückseite des Silbertabletts musterte, auf dem üblicherweise die Teegläser standen.

„Gut siehst du aus“ schäkerte sie. „Wenn dir nach dem Ahal keine Imnai[15]gibt, bin ich auch nicht abgeneigt.“

Bevor Raschid antworten konnte, lachte Tilila laut auf. „Raschid ist noch nie nach einem Ahal allein nach Hause gegangen. Wir überlegen sogar schon, ob wir ihm ein eigenes Zelt beschaffen sollten.“

Raschid wandte sich verlegen ab, und wickelte einen weißen Schesch um seine frisch geflochtenen Zöpfe. Darüber kam eine zweite Schicht aus dunklem Indigo, und zum Schluss das schwarze Azerrid nErslernamit dem silbernen Amulett. Hilfreich hielt ihm Tilila das Silbertablett vors Gesicht, damit er das Amulett in eine dekorative Position ziehen konnte.

„Du wirst Eindruck machen, da bin ich sicher.“ sagte sie. „Das musst du auch. Du musst doch die Familienehre hochhalten, sonst heimst Kaihala den ganzen Ruhm alleine ein. Und jetzt sollten wir schnell essen, damit wir loskönnen.“ 

Sie drehten einander den Rücken zu, und leerten schweigend ihre Schüsseln. Ein wenig bedauerte es Raschid, dass er nun keine Gelegenheit haben würde, mit seinen besten Kindheitsfreunden zu reden, aber die Vorfreude auf das Ahal überwog.

Nachdem sie beide ihre Festtagskleidung angelegt hatten, flocht Tilila kleine Silbermünzen in ihre Zöpfe, zog ihr bestes Aleschu[16]aus dunklem Indigo darüber und befestigte es mit silbernen Spangen. Raschid streifte die Schärpen mit den Amuletten und dem Stammesabzeichen über und gürtete seine Takuba[17].

Es dämmerte schon, als sie das Lager der Kel Tahore erreichten und schon aus der Ferne konnten sie die Trommeln und den Gesang der Frauen hören. Raschid setzte sich würdevoll im Sattel zurecht. Der Rest des Abends würde eine unablässige Abfolge von Wettbewerben sein, und er war es seiner Ehre als Kel Aschak schuldig allen zu zeigen, dass ein einzelner Kel Aschak fünf Inaden oder Kel Ulli wert war.

Das Ahal

Mariemma Ult Samil saß neben ihrer zurzeit besten Freundin Kherima Ult Latif und wartete auf die Parade der Reiter. Beide hatten ihre Augen mit dunklem Antimon umrandet, die Lippen indigoblau gefärbt und trugen ihre besten Gewänder. Mariemma hatte viele kleine Amulette in ihre Zöpfe geflochten, die bei jeder Bewegung leise unter ihrem indigoblauen Aleschu leise klimperten.

„Was findest du denn so unwiderstehlich an Raschid?“ fragte sie spöttisch. „Er ist wie ein Bruder für mich. Idrissa und ich haben als Kinder immer mit ihm zusammen gespielt. Barfuß, im Hemdchen und mit unbedeckten Köpfen, so dass ich sein Gesicht sehen konnte. Wir haben einander Zöpfe geflochten, wie Geschwister es tun. Ich mache mir eher Sorgen, weil er nicht mit den anderen Kel Aschak beim Festessen war.“

Kherima lächelt schwärmerisch.

„Hast du ihn schon einmal bei einem Ahal erlebt?“ fragte sie.

„Er hat so eine würdevolle Haltung; in seinen blauen Augen könnte man versinken und wenn er die Takuba schwingt, gehen alle anderen in Deckung.“

Mariemma lachte.

„Die Takuba hat mein Onkel Amazzal geschmiedet. Raschid hat sie von seiner Familie geschenkt bekommen, als er seinen Schesch erhielt. Und die Scheide dazu haben meine Mutter, meine Schwestern und ich angefertigt. Dafür ist sein Vater extra zu uns in die öden Hügel gekommen, weil wir damals noch dort gelebt haben. Sogar sein Sattel und all seine Amulette sind von uns. Wir fertigen alles an, was die Kel Aschak brauchen. Einen großen Teil ihrer eindrucksvollen Erscheinung verdanken sie unserer Handwerkskunst.“

Stolz schwang in ihrer Stimme mit. Der Stolz eines Handwerkers, der um die Qualität seiner Arbeit weiß. Kherima war zwar gegenwärtig ihre beste Freundin, aber ihre Leute waren nur Kel Ulli - Imghad[18], die dem Asad-Clan der Kel Aschak tributpflichtig waren. Die Inaden[19]hingegen waren auf ihre eigene Art und Weise frei. Und sie waren unentbehrlich, was sogar die Asad einsahen, auch wenn sie es nicht zugaben.  

„Bei einem Ahal habe ich ihn allerdings noch nie gesehen, eigentlich seit Jahren nicht.“ Überlegte Mariemma laut. „Seit sie aus den öden Hügeln weggezogen sind hatten wir ja keinen Kontakt mehr, und als wir vor einem Mond hier angekommen sind, waren sie noch mit der Salzkarawane unterwegs. Als ich Raschid zuletzt gesehen habe, waren wir noch Kinder und ja, ich glaube, seine blauen Augen fand ich auch recht hübsch, aber er hat sie immer zugekniffen. Er hat uns Stockfechten beigebracht, weißt du? Idrissa und ich haben uns immer so hingestellt, dass wir die Sonne im Rücken hatten. Raschid wollte natürlich keine Schwäche zeigen, und musste dann eben die Augen zukneifen, weil ihn die Sonne blendete. Es war ziemlich lustig mit ihm, damals. Schade, dass diese Zeiten vorbei sind. Wenn er wenigstens beim Festessen gewesen wäre. Ich hätte gern mit ihm über alte Zeiten geplaudert.“

„Dann hättest du ihn mir vorstellen können.“ seufzte Kherima und verdrehte schwärmerisch die Augen. „Hast du schon einen Favoriten für heute Abend?“ Mariemma schüttelte den Kopf.

„Ich lasse mich überraschen.“ sagte sie leichthin.

Eine der Frauen begann, die Trommel zu schlagen, und das war das Signal, dass nun das Ahal begann. Auch Mariemma und Kherima drängten sich mit den anderen Frauen um die Trommel und schlugen den Takt mit. Diejenigen, die keinen Platz mehr an der Trommel ergattert hatten, klatschten stattdessen in die Hände. Gemeinsam sangen sie die alten Lieder, hin und wieder von schrillem Trillern unterbrochen.

Wie an einer Schnur aufgereiht zogen die Reiter ihre Kreise um die trommelnden und klatschenden Frauen, jeder um einen möglichst würdevollen Eindruck bemüht.

„Das ist er!“ raunte Kherima plötzlich aufgeregt und nahm eine Hand von der Trommel, um auf einen der Reiter zu zeigen. „Das ist Raschid. Und er trägt das Azerrid n Erslerna. Das hatte er letztes Mal noch nicht.“ Neugierig folgte Mariemma der Richtung, in die Kherima gezeigt hatte und verschluckte sich fast, als ihr Blick bewundernd an ihm kleben blieb. Sie erkannte die Takuba an seinem Gürtel, und die Fransen, mit denen sie selbst vor Jahren die Scheide verziert hatte. Doch der Reiter, der sie trug, war nicht mehr ihr alter Freund aus Kindertagen. Das war ein beeindruckender junger Asad-Krieger, der stolz die Festtagstracht erwachsener Männer und das um den Turban gewundene Azerrid n Erslerna trug.

„Sag ich doch!“ trumpfte Kherima auf, und Mariemma riss ertappt den Blick von Raschid los.

Im Verlauf des Abends versuchte jeder der Reiter, die anwesenden Frauen bei Geschicklichkeits-Wettbewerben zu beeindrucken, und Mariemma musste sich eingestehen, dass Raschid dabei eine ziemlich gute Figur machte. Immer wieder ertappte sie sich dabei, dass sie ihn genauso schwärmerisch ansah, wie Kherima es tat.

So mancher gab Gedichte zu Besten, oder erzählte eine Geschichte. Raschids Cousin Kaihala, der ebenfalls einige bewundernde Blicke auf sich gezogen hatte, pries die Schönheit seiner Verlobten Tifawt, woraufhin diese ihr Aleschu vors Gesicht zog, und verlegen den Kopf abwandte.

Als letzter trat Raschid vor und sagte:

„Diese Erzählung widme ich meinem Cousin und Schwager Malik Ag Amestan, ohne den ich heute nicht hier wäre.“ Seine Hand berührte das Azerrid n Erslerna an seinem Turban, und dann erzählte er in blumigen Farben von der Salzkarawane, die erst am Morgen des vorigen Tages mit zwei Wochen Verspätung nach Hause gekommen war. Sein Vater, der Anesbarid war durch eine Bindehautentzündung vorrübergehend erblindet, nachdem sie drei Tage und Nächte in einem Sandsturm festgesessen hatten. Malik hatte die Rationen an Wasser, Proviant und Kamelfutter reduzieren, und zusätzliche Gewaltmärsche anordnen müssen, damit sie ihr Ziel erreichen konnten, ehe die Vorräte aufgebraucht waren. Außerdem mussten die Lasten neu verteilt werden, damit Raschids verletzter Vater auf einem der Lastkamele reiten konnte. Dazu kam, dass nach dem Sandsturm die Landschaft völlig anders aussah, und der Himmel trüb war, sodass man die Sonne kaum sehen konnte. Trotzdem hatte es Malik geschafft, den Weg zu finden und sie alle nach Hause zu bringen.  „Auf dieser Reise haben wir die Gegenwart des Todes gespürt.“ beendete Raschid schließlich seine Rede und seine Finger strichen beiläufig über das silberne Amulett an seinem Turban. „Ein Grund mehr, heute das Leben zu feiern.“

Es war still. Nur Kaihala nickte zustimmend und berührte das Azerrid an seinem eigenen Turban.

Keiner der übrigen Anwesenden hatte Ähnliches schon erlebt. Die Inaden nicht, die Kel Ulli nicht, und auch keine der Frauen. Die Salzkarawanen waren das Revier der Asad, und hier und heute waren Kaihala und Raschid die einzigen Anwesenden, weil all ihre Brüder und Cousins schon verheiratet waren, und deshalb nicht mehr auf Ahals gingen. Man hatte Raschids Rede durchaus angehört, dass ihm die Anstrengungen noch in den Knochen steckten, und gerade das hatte allen imponiert, weil er darüber kein Wort verloren hatte. Bei genauerem Hinsehen konnte Mariemma ihm die überstandenen Strapazen auch ansehen und eine Welle von Zärtlichkeit, gemischt mit Bewunderung für seine Tapferkeit überflutete sie, als sie sich vorstellte, was er durchgestanden haben musste.

Er blickte sich um, sein Blick schweifte über die anwesenden Frauen, und dann stutzte er und sein Blick kehrte zu Mariemma zurück, nachdem er zuvor beiläufig über sie hinweg geglitten war. Mariemma sah, wie sich seine Augen weiteten, und spürte, wie sein Blick etwas tief in ihrem Herzen berührte, von dem sie vorher nicht einmal gewusst hatte, dass es da war. Man kann wirklich in seinen Augen versinken, wenn er sie nicht gerade zukneift, dachte sie überrascht und man sieht sogar, dass sich die Sterne darin spiegeln. Ein warmes Glücksgefühl breitete sich in ihrem Herzen aus, und sie lächelte selig. Kherima neben ihr boxte ihr in die Seite, doch sie bemerkte es kaum, weil ihr Blick noch an Raschid klebte.

Derweil schwangen sich die Männer wieder auf ihre Kamele. Nur Raschid stand immer noch da und starrte sie an, einen unergründlichen Ausdruck in den Augen, bis Kaihala zurückkam, ihn am Arm packte und unter dem Gelächter der anderen mit sich zog. Die Frauen begannen wieder zu singen und zu klatschen. Mariemma wusste, was nun kommen würde, und löste vorsorglich die Spangen, mit denen ihr Aleschu befestigt war. Alle Reiter galoppierten immer schneller um die Gruppe der singenden und klatschenden Frau zu herum. Immer wieder scherte einer aus und ritt auf die sitzenden Frauen zu, und zog einer der Frauen das Aleschu vom Kopf. Mariemma warf einen kurzen Blick hinter sich. Ihr Cousin Ayur hielt auf sie zu, dicht gefolgt von Raschid. Neben ihr streckte sich Kherima den Reitern entgegen. Ayur hatte Mariemma schon fast erreicht, da drängte Raschid ihn beiseite, und zog Mariemma das Tuch vom Kopf. Ayur erwischte stattdessen das von Kherima, die enttäuscht aufseufze. Triumphierend schwenkte Raschid Mariemmas Tuch und schaute sich mit blitzenden Augen zu ihr um. Dann drückte er es an sein Herz, bevor er es in seine Brusttasche steckte, stieß einen Jubelschrei aus, und galoppierte davon.

„Darauf kannst du dir echt was einbilden“ tuschelte Kherima mit einer Mischung aus Neid und Anerkennung in der Stimme. „Das hat er bisher noch nie gemacht. Oder vielleicht liegt es auch nur daran, dass er jetzt ein Abarad ist.“ Mariemma antwortete nicht. Ihr Blick folgte Raschid, bis er im Licht des Vollmondes nur noch ein Schatten wie alle anderen war.

Was war das gewesen? Sie waren doch Freunde, beinahe Geschwister. Und nun? Sie hatte sich Raschid nie als erwachsenen Mann vorgestellt, obwohl ihr natürlich klar gewesen war, dass sie beide keine Kinder mehr waren. Idrissa, ihr Zwillingsbruder war ja inzwischen auch ein Mann geworden, und sie waren alle drei im selben Sommer geboren. Das Gefühl von Zärtlichkeit für Raschid war immer noch da, und auch das, was auch immer es war, was sein Blick in ihr ausgelöst hatte. Und wie sein Blick an ihr geklebt hatte; ebenso wie ihrer an ihm. Als hätte etwas sie zueinander hingezogen, was sich ihrem bewussten Willen entzog.

Die Männer ritten davon, stiegen von ihren Kamelen, und richteten ihre Kleider, während die Frauen die Ziegenhaut von der Trommel zogen, damit sie am folgenden Tag wieder als Mörser verwendet werden konnte. Mariemma jedoch träumte mit geschlossen Augen vor sich hin.

 „Ich glaube, das gehört dir“ sagte plötzlich eine Stimme nah bei ihr und holte sie in die Wirklichkeit zurück. Raschid hockte vor ihr im Sand, sein Kopf dicht vor ihrem und seine Augen schienen im Mondlicht zu leuchten. In seiner ausgestreckten Hand hielt er ihr Aleschu. Mit einer Hand nahm Mariemma es an sich, und hielt mit der anderen seine Hand fest. Keine riesige Pranke wie es Idrissas Hände waren, aber auch keine Kinderhand mehr. Es war eine schmale, aber kräftige Männerhand, kaum größer als ihre eigene, die für eine Frauenhand vergleichsweise groß und kräftig von der Arbeit war. Und sie war trotz der kühlen Nacht warm, beinahe heiß. Raschid war beileibe nicht der erste, der ihr nach einem Ahal seine Hand gereicht hatte, doch dieses Mal war es anders. Seine Hand bebte leicht in ihrer, als schlüge darin ein eigenes Herz. Unwillkürlich strich sie sacht mit den Fingerspitzen über die Schwielen, die die Strapazen der überstandenen Reise dort hinterlassen hatten und fühlte wie er erschauerte und sich dann der Berührung hingab, als hätte sie sein Herz gestreichelt.

 Mariemma fühlte, wie ihr Herz dem seinen entgegenfloss, und diese an sich harmlose Berührung fühlte sich intimer an als alles, was sie bisher erlebt hatte. Mit bebendem Finger malte sie die altbekannten Zeichen in seine glühend heiße Hand und weil sie jetzt schon wusste, was sie sich beide voneinander wünschten, was in ihrer beider Herzen im Grunde schon stattgefunden hatte, schrieb sie noch ein Extra-Wort dazu: IMNAI. Sie hörte ihn leise aufkeuchen. Dann nickte er und sein Finger bebte ebenso wie ihrer gebebt hatte, als er in ihre Hand die Antwort mit dem Treffpunkt schrieb.

 

Der Morgen danach


Es war schon hell, als Raschid erwachte. Er war allein, oder doch nicht? Irritiert blickte er sich um und sah Malik einige Meter entfernt auf einem Felsbrocken sitzen. Zwei Kamele weideten in der Nähe, und eines davon war Atri. „Guten Morgen“ sagte Malik spöttisch, als Raschid sich aufsetzte. „Dein Mädchen hat das Weite gesucht, als sie mich gesehen hat. Hast du dich so sehr verausgabt, dass du den ganzen Tag verschlafen wolltest?“

Schläfrig rieb sich Raschid die Augen, tastete dann unter der Decke nach seinen Kleidern und schlüpfte hastig in seine Hose.

„Kaihala, Tifawt, Tilila und Asara waren schon vor dem Morgengrauen zurück, und als Atri ohne dich in unser Lager spaziert kam, hat sich deine Schwester Sorgen gemacht.“ Begründete Malik seine Anwesenheit, während Raschid sich verlegen abwandte, und nach seinem Schesch suchte.

„Ich bin kein Kind mehr!“ murrte er und begann, den Stoff um seine zerwühlten Zöpfe zu wickeln.

„Ich bin ein Abarad!“

Malik wandte sich taktvoll ab, damit Raschid sich fertig anziehen konnte.

„Dann benimm dich auch so. Was auf einem Ahal geschieht, bleibt auch da, wenn man die nötige Diskretion walten lässt, aber dafür muss man vor Sonnenaufgang zu Hause sein.“

Raschid wusste natürlich, dass Malik Recht hatte, und unterließ es daher das Thema noch weiter zu vertiefen. Sorgfältig zog er sich an, streifte die Schärpen über, wand das Azerrid n Erslerna um seinen Turban und gürtete seine Takuba. Dann zog er seinen Schesch in eine halbwegs schickliche Position und rollte die Decken zusammen, aus denen das Nachtlager bestanden hatte und zog seinen Speer aus dem Sand. Erst als er mit den Decken und seinem Speer unter dem Arm auf Malik zuging, fiel ihm auf, dass dieser ihn besorgt musterte.

„Kaihala hat uns erzählt, was du gestern auf dem Ahal erzählt hast. Du kannst dich zu Hause von den Strapazen der Reise erholen. Wir alle wissen, dass es einige Tage dauert, bis man das überwunden hat. Jetzt komm, wir werden zu Hause erwartet.“

Raschid sattelte sein Kamel und befestigte die Decken und den Speer daran, stieg aber nicht auf.

„Hat Kaihala wirklich alles erzählt?“ fragte er.

„Ja“ erwiderte Malik kurz angebunden und schwang sich in den Sattel. „Es ist aber nicht nötig, dass du einen Helden aus mir machst. Jeder an meiner Stelle hätte das gleiche getan.“

„Ich möchte ein Anesbarid werden wie du.“ gestand Raschid seinem Schwager leise. „und ich möchte eine Frau heiraten, die ich genauso liebe, wie du Tudert liebst. Ich glaube, ich habe sie gefunden.“

Malik, der seinem Kamel schon das Kommando zum Aufbruch gegeben hatte, wandte es überrascht um. „Wann, gestern? Das Mädchen, mit dem du hier übernachtet hast? Wer war sie denn?“ 

„Mariemma“ sagte Raschid leise und verträumt. Er sprach den Namen aus, als sei er etwas unendlich Kostbares und fühlte, wie sein Herz bei dem bloßen Gedanken an sie dem ihren entgegenflog. Da Malik keine Anstalten machte, wieder abzusteigen, und das Gespräch fortzusetzen, schwang sich Raschid auf sein Kamel. „Du weißt schon.“ fuhr er fort. „Ich habe als Kind immer mit ihr und ihrem Bruder gespielt.“

„Was, diese Inaden?“ fragte Malik geringschätzig. „Ja, ich erinnere mich. Du bist immer zu ihnen gelaufen, wenn du zu Hause mit irgendwas unzufrieden warst. Ich dachte, die waren wie Geschwister für dich. Und jetzt willst du sie plötzlich heiraten? Das scheint mir etwas überstürzt. Und dir ist doch wohl klar, dass Großmutter dir nie erlauben wird, eine Inaden-Frau zu heiraten.“

Raschid schluckte als ihm bewusstwurde, dass Malik recht hatte.

„Aber ich liebe sie“ sagte er leise und Malik schüttelte spöttisch den Kopf.

„Du gehst seit über zwei Jahren auf Ahals, hast nach jedem eine neue Freundin, und deine Affären halten nie sonderlich lange. Das ist normal in deinem Alter, glaube ich. Also wieso behältst du es nicht für dich wie sonst auch, und wartest ab, ob sich der Aufwand lohnt, ehe du übers Heiraten nachdenkst? Du hast noch mindestens zwei weitere Jahre Zeit, in denen sich niemand in dein Privatleben einmischen wird, solange du die nötige Diskretion walten lässt. Genieße es doch einfach.“ Malik sah sich nicht zu Raschid um, sondern ließ sein Kamel gemächlich in Richtung des heimatlichen Zeltlagers spazieren. Raschid musste zu ihm aufholen, um mit ihm auf Augenhöhe sprechen zu können.

„Dieses Mal ist es anders.“ sagte er. „Sie ist etwas Besonderes.“

„Ist das nicht jedes Mal so?“ fragte Malik ohne großes Interesse. „Ich habe dasselbe nach jedem Ahal von meinen Brüdern und Cousins gehört. Und ich kann da wirklich nicht mitreden, weil ich ja schon wusste, dass ich Tudert heiraten will, bevor ich alt genug war, um auf Ahals zu gehen.“

„Ich weiß“ sagte Raschid säuerlich. „Ihr habt dauernd Vater, Mutter, Kind gespielt, und ich musste das Baby sein. Was meinst du wohl, warum ich so oft zu den Inaden gelaufen bin? Unter anderem, weil ich da kein Baby sein musste, und auch nicht Mutters Anubi. Da war endlich mal ich der Ältere, auch wenn sie nicht einmal einen Mond jünger sind als ich.“ Nun wandte sich Malik doch zu ihm um, und in seinen Augen las Raschid einen Hauch von Betroffenheit.

„Ist das wahr? Das wusste ich nicht. Aber es ist vorbei, jetzt bist du erwachsen. Ich versuche schon seit längerem, deiner Schwester klarzumachen, dass die Familie langsam aufhören sollte, dich wie ein Kleinkind zu behandeln. Und dass ich schon seit Jahren versuche, einen Mann aus dir zu machen, da es ja sonst keiner tut. Aber das ändert nichts daran, dass Großmutter dir eine Ehe mit einer Inaden-Frau niemals erlauben wird. Du hast doch nicht etwa schon mit diesem Mädchen über Heiratspläne gesprochen, oder?“

Raschid schüttelte den Kopf. „Nein, da wusste ich es noch nicht. Es ist mir erst heute Morgen aufgefallen.“ Kopfschüttelnd wandte Malik den Blick wieder nach vorn. „Es scheint, dass mein Bemühen von weniger Erfolg gekrönt war, als ich gehofft hatte. Du redest wie ein törichter Junge. Oder die letzte Reise hat dir mehr zugesetzt als ich dachte. Es scheint noch ein weiter Weg vor dir zu liegen, bis du hart genug bist, um ein wahrer Kel Aschak zu sein. Bis Neumond kannst du dich erholen, aber bei der Reise nach Chetra bist du dabei, und dann bist du wieder vollständig einsatzfähig. Ist das klar? Und jetzt beeile dich, damit wir zu Hause sind, ehe deine Mutter noch weitere Suchtrupps nach dir ausschickt, als wärest du sieben und nicht siebzehn Jahre alt.“

Raschid nickte betreten ob Maliks Standpauke, und beeilte sich, mit ihm schrittzuhalten. Doch er fühlte Mariemmas Gegenwart noch immer in seinem Herzen, und das war wirklich anders als sonst.


 

Bedenken


Das Erste, was Raschid zu Hause erwartete, war seine besorgte Mutter, die ihn ans Herz drückte, als sei er von einer gefahrvollen Reise zurückgekehrt. Peinlich berührt machte er sich los, da er Maliks spöttischen Blick auf sich gerichtet fühlte, obwohl sich dieser in Gegenwart der Schwiegermutter diskret im Hintergrund hielt. Malik schlenderte betont lässig davon, und Raschid begann, sein Kamel abzuladen, entließ es zum Weiden und brachte dann den Sattel und die Decken ins Zelt seiner Mutter zurück. Kaum hatte er das Zelt betreten, zog Tilila ihn beiseite, und bestürmte ihn mit Fragen nach dem gestrigen Abend.

„Wer war sie, die du so angestarrt hast? Das war total peinlich, weißt du? Hat sie dir wenigstens Imnai gegeben? Ach, was frage ich, natürlich hat sie das, sonst wärst du ja nicht so lange weggeblieben.“

Sprudelte es aus ihr heraus, noch ehe er sich irgendwo hatte setzen können. Raschid ließ sich neben ihr auf der Decke nieder.

„Und wie war dein Abend?“

Tilila winkte beiläufig ab. „Ganz nett so weit. Außer dir und Kaihala waren ja nur Inaden und Imghad da, also war die Auswahl eher mäßig. Ich glaube nicht, dass ich mich noch einmal mit ihm treffe. Die Nacht war zwar recht schön, aber ich muss mir ja langsam über einen geeigneten Ehekandidaten Gedanken machen."

Sie blinzelte ihm verschwörerisch zu.

"Also von all unseren Cousins würde mir am besten Onkel Gwafas Sohn Asfru gefallen. Du weißt schon, der immer diesen schalkhaften Ausdruck in den Augen hat. Wir verstehen uns auch recht gut, er ist immer lustig und ich glaube, er mag mich. Er hat kürzlich einige Andeutungen fallen lassen. Wäre er gestern auch auf dem Fest gewesen, hätte ich mich am liebsten mit ihm getroffen.

Und jetzt erzähl schon! Was hat dich so lange aufgehalten, dass Mutter Tudert geschickt hat, um Malik nach dir suchen zu lassen?“  

Raschid machte es sich bequem, zog den Schesch bis zum Kinn herunter und trank einen großen Schluck aus seinem Wasserschlauch.

„Nichts hat mich aufgehalten. Ich habe einfach nur lange geschlafen.“ sagte er gelassener als er sich fühlte. Sein Herz sehnte sich nach Mariemma, und gleichzeitig erinnerte sein Verstand ihn an Maliks mahnende Worte.

„Nun komm schon, wer war sie?“ drängte Tilila.

„Mariemma“ sagte Raschid leise und sehnsüchtig.

„Dieses Inaden-Mädchen, mit dem du als Kind immer gespielt hast?“ Tilila grinste anzüglich. „Die sollen besondere Fertigkeiten haben, heißt es…“

Raschid winkte ab. „Das ist es nicht. Sie hat gelächelt, als sich unsere Blicke begegnet sind.“

Tilila lächelte schelmisch. „So ungefähr?“

„Nein, nicht so. So wie sie hat noch keine gelächelt. Es war, als ginge mitten in einer kalten dunklen Nacht plötzlich die Sonne auf. Weißt du, wenn alle sich frierend ums Feuer drängen, um sich zu wärmen, und dann geht die Sonne auf, und jeder streckt die frierenden Glieder ihren wärmenden Strahlen entgegen. Wie diese milde Wärme an einem frühen Morgen, der auf eine kalte Winternacht folgt. So war ihr Lächeln.“ Er hörte selbst, wie schwärmerisch seine Stimme klang, aber es fühlte sich richtig an.

Tilila warf ihm einen beeindruckten Blick zu. „Hach, wenn das einer zu mir sagen würde beim Ahal. Damit hätte er mich schon halb gewonnen. Wieso hast du das nicht gestern gesagt, sondern nur dagestanden und sie angestarrt? Du hast wie ein Trottel gewirkt, und dich damit ziemlich blamiert.“

Raschid zuckte die Achseln und trank noch einen Schluck Wasser.

„Sie fand es nicht peinlich, glaube ich. Zwischen uns ist etwas passiert, was sich nicht mit Worten ausdrücken lässt. Es war wie ein Traum. Ein besonders schöner Traum, von dem man sich wünscht, dass er niemals enden möge. Wahrscheinlich habe ich deshalb so lange geschlafen. Vorhin habe ich zu Malik gesagt, dass sie die Frau ist, die ich irgendwann heiraten will. Aber Malik hat natürlich recht, wenn er sagt, dass Großmutter mir nie erlauben wird, eine Inaden-Frau zu heiraten.“

Tilila runzelte die Stirn.

„Du denkst schon ans Heiraten? Nach nur einer Nacht? Dich muss es ja schlimm erwischt haben.“  

Raschid lächelte verträumt.

„Es war von Anfang an anders als sonst, das hast du doch gesehen. Erst gestern noch hatte ich zu Kenan gesagt, dass ich eine Frau suche, die ich genauso lieben kann, wie Malik Tudert liebt. Bisher ist es noch bei keiner anderen so gewesen, darum haben meine Affären auch nie lange gehalten. Aber bei Mariemma ist es anders als bei allen anderen vorher. Es geht viel tiefer. Als wäre mein Herz mit ihrem verbunden, auch wenn ich nicht bei ihr bin.“

Tilila musterte ihn fasziniert. „Zumindest scheint sie den Poeten in dir zu wecken.“

Dann wurde sie wieder ernst. „Du hast doch hoffentlich nicht mit ihr übers Heiraten gesprochen, oder? Ich meine, es wäre ziemlich grausam, wenn du ihr Hoffnung machst auf etwas, was du nicht erfüllen kannst.“

Raschid blickte kummervoll zu Boden. „Ihr habt ja recht, Malik und du“ sagte er leise.

Tilila legte tröstend eine Hand auf seine Schulter. „Glaubst du, dass es sie genauso schlimm erwischt hat wie dich? Weil wenn nämlich nicht, dann ist es vielleicht besser, du belässt es dabei, sonst fällt es ihr nachher noch schwerer. Du hast noch zwei Jahre Zeit, eine passendere zu finden, und sie kann dann auch einen anderen finden. Und später könnt ihr dann wieder Freude sein. Asara scheint übrigens recht verstimmt zu sein, weil du sie überhaupt nicht beachtet hast.“ 

Asara. Es schien von seiner Familie bereits beschlossen zu sein, dass er und Asara heiraten sollten, nur weil ihr Vater der Bruder seiner Mutter war. Nun, sie war die Tochter seines Onkels und nur 2 Monde älter als er, und damit die perfekte Ehekandidatin, aber er liebte sie nun einmal nicht. Er hatte bisher auch nie den Eindruck gehabt, dass es ihr anders ging, denn schließlich war sie von der zusammen verbrachten Nacht nach ihrem ersten gemeinsamen Ahal auch nicht beeindruckter gewesen als er. Liebe war das jedenfalls nicht, war es auch nie gewesen. Sie hatte nie versucht, daran anzuknüpfen, sondern war - ebenso wie er nach Ahals nie allein nach Hause gegangen. Sie war recht hübsch, und es hatte ihr nie an Verehrern gemangelt. Vielleicht war sie auch nur deswegen verärgert, weil außer ihm keine anderen Kel Aschak da gewesen waren, und sie sich mit einem Kel Ulli hatte begnügen müssen. Kaihala zählte ja nicht, denn der hatte sich natürlich mit seiner Verlobten getroffen.

In den folgenden Tagen versuchte er, ihr aus dem Weg zu gehen, aber seine so plötzlich entflammte Liebe zu Mariemma schien sich im Lager bereits herumgesprochen zu haben. So dauerte es denn auch nicht lange, bis sie eine Gelegenheit fand, ihn zur Rede zu stellen. Raschid ließ den Redeschwall halb abwesend über sich ergehen, hörte kaum hin, und bekam nur gelegentliche Satzfetzen mit.

„Ein Inadenmädchen? …“  „… müsste eigentlich weit unter deiner Würde sein…“ „Was für ein Kel Aschak bist du eigentlich?“ Es konnte ihm egal sein, wenn er in ihrer Achtung gesunken war. Sein Herz gehörte Mariemma und selbst wenn er sie nicht heiraten konnte, wenn er sie nie wiedersehen durfte, hatte er jetzt eine Ahnung davon bekommen, wie Liebe sein konnte. Sollte er jemals heiraten, dann müsst er eine Frau finden, die sein Herz ebenso berühren konnte, wie Mariemma es getan hatte. Und diese Frau war sicher nicht Asara.

Irgendwann schien Asara bewusst zu werden, dass er überhaupt nicht auf ihre Vorwürfe reagierte, und mit einem verächtlichen „pha, bilde dir nur nicht ein, ich könnte keinen Besseren finden als dich!“ rauschte sie davon.

 

 

Brüderlicher Beistand

 

Idrissa begann allmählich, sich Sorgen um seine Schwester zu machen. Seit dem Ahal, von dem sie erst lange nach Sonnenaufgang allein zurückgekommen war, war sie vollkommen verändert. Am ersten Tag hatte sie noch lächelnd vor sich hingeträumt und bei der Arbeit leise gesummt. Nur ihre beste Freundin Kherima schien verärgert über sie zu sein und sprach nicht mehr mit ihr. Vom nächsten Tag an war Mariemma dann zunehmend launischer geworden. Nachts wälzte sie sich unruhig auf ihrem Lager herum, und war tagsüber ständig müde. Er hatte sich schon den Kopf darüber zerbrochen, was Mariemma so Aufwühlendes erlebt haben könnte, aber auf dem Ahal war er zu sehr damit beschäftigt gewesen mit der hübschen Sukaina anzubandeln, so dass er nicht weiter auf Mariemma geachtet hatte.

Inzwischen waren fünf Tage vergangen, und Idrissa ertrug es nicht länger, tatenlos zuzusehen. Taktvoll passte er eine Gelegenheit ab, als sie allein über eine Lederarbeit gebeugt saß, und setzte sich neben sie. Eine Weile saß er nur stumm da, wartete ab, ob sie von sich aus anfangen würde zu reden.

„Willst du mir nicht erzählen, was passiert ist?“ fragte er schließlich leise und mitfühlend.

„Früher hast du mir fast alles erzählt, doch dieses Mal hast du kein Wort über das Ahal verloren. Und es sieht aus, als hättest du Kummer deswegen.“

„Ich dachte, er fühlt das gleiche wie ich.“ sagte Mariemma nach einer Weile leise.

„Aber er meldet sich nicht.“

„Wer denn?“ fragte Idrissa neugierig. „Kenne ich ihn?“ Doch Mariemma ging nicht darauf ein.

„Auf dem Ahal schien es etwas ganz Besonderes zu sein. Schon allein, wie er mich angesehen hat. Bis tief ins Herz ging sein Blick und hat etwas berührt, von dem ich nicht einmal wusste, dass es da ist. Als er mir dann seine Hand gereicht hat, hat sie gebebt und es war, als, als hielte ich sein Herz in meiner Hand. Es war das Intimste, was ich jemals erlebt hatte, und du weißt ja, es war bei weitem nicht das erste Mal, dass ich jemandem Imnai gegeben habe. Und für ihn schien es genauso besonders gewesen zu sein. Natürlich haben wir uns getroffen, und die Nacht zusammen verbracht, es war irgendwie als hätte alles sowieso schon vorher stattgefunden in unseren Herzen.“

Skeptisch musterte Idrissa seine Schwester mit schief gelegtem Kopf.  

„All die schönen Worte und großen Gesten, die Männer bei Ahals von sich geben.“ Sinnierte er „Du kennst das doch. Von den meisten ist am nächsten Morgen nicht mehr viel übrig. Und wer war es überhaupt?“ fragte Idrissa, nun etwas drängender, doch Mariemma überging es.

„Er war so liebevoll, Idrissa.“ seufzte sie. „Ich war wie Wachs in seinen Händen. So liebevoll ist vorher noch keiner gewesen. Deshalb dachte ich ja auch, es würde ihm mehr bedeuten als nur eine Nacht. Aber das war wohl falsch.“ 

„Und wer war es denn nun?“ fragte Idrissa zum dritten Mal. Mariemma zog ihr Kopftuch vors Gesicht und blickte verlegen zu Boden.

„Raschid“ flüsterte sie.

Idrissa schnappte nach Luft. „Raschid? Unser Raschid? Du warst diejenige, die er so angestarrt hat, dass schon alle darüber gelacht haben??“ Mariemma nickte verlegen und knetete die Lederarbeit in ihren nervösen Händen.

„Du weißt aber schon, was man sich über ihn erzählt, oder?“ fragte Idrissa vorsichtig.

Mariemma schüttelte den Kopf „Nein, was denn?“  

„Er geht nach einem Ahal nie allein nach Hause.“

„Na und? Das tun wir auch nicht.“

„Aber er ist das gewöhnt, Mariemma. Dass bei jedem Ahal Mädchen für ihn schwärmen. So wie deine Freundin Kherima.“

„Ich weiß, sie redet seit dem Ahal nicht mehr mit mir, weil sie meint, ich hätte mit Absicht seine Aufmerksamkeit von ihr abgelenkt und auf mich gezogen. Dabei hatte ich überhaupt keine derartigen Absichten. Ich weiß ja selbst nicht, was mit mir passiert ist, als sich unsere Blicke begegnet sind.“

„Was ich meine ist“, fuhr Idrissa fort „er bemüht sich immer um beeindruckende Auftritte. Ich muss zugeben, das ist ihm auch dieses Mal wieder gelungen, aber … wie soll ich sagen … sich danach mit einem Mädchen zu treffen, das ist für ihn wie eine Trophäe nach einem gewonnenen Wettbewerb. Das Mädchen selbst bedeutet ihm nichts. Er weiß, dass er so ziemlich jede haben kann, sucht sich eine aus, und gewinnt sie dann auch. Warum er ausgerechnet dich ausgesucht hat, verstehe ich allerdings nicht. Und ich finde es auch nicht sonderlich fair von ihm, so mit deinen Gefühlen zu spielen.“

Idrissa merkte selbst, wie er sich immer mehr in Rage redete, aber er war von jedem seiner Worte überzeugt. Ruckartig sprang er auf die Füße.

„Ich glaube, ich sollte mal ein paar ernste Worte mit unserem alten Freund reden!“

 

 

Zerreißprobe einer Freundschaft

 

Raschid saß auf einem Felsen im Schatten einer Palme am Rand des Lagers und blickte versonnen ins Leere. Er hatte auf Maliks Anraten hin von seiner Familie eine Art Schonzeit verordnet bekommen, um sich von den Strapazen der Reise zu erholen und war nicht einmal auf die Idee gekommen, sich übermäßig verhätschelt zu fühlen. So hatte er beinahe den ganzen Tag Zeit, darüber nachzugrübeln, was eigentlich beim Ahal passiert war, und das schon seit Tagen. Trotzdem drehten sich seine Gedanken immer noch im Kreis. Er hatte an Mariemma bisher nur als eine Art Schwester gedacht. Allerdings hatte er sie auch seit Jahren nicht mehr gesehen und damals waren sie noch Kinder gewesen. Das war noch in den öden Hügeln gewesen, und dann waren seine Leute hierher übergesiedelt, und für ihn war zu der Trauer um die im Kampf Gefallenen noch die Trauer um den Verlust seiner besten Freunde gekommen, deren Leute in den öden Hügeln geblieben waren. Damals war Mariemma noch ein dürres Mädchen gewesen, das sich immer diebisch gefreut hatte, wenn er beim Stockfechten wieder einmal so stehen musste, dass ihn die Sonne blendete. Er hatte ihr großzügig diesen Triumpf gegönnt und das Beste daraus gemacht. Schließlich war er ein Asad, und sie und Idrissa waren nur Inaden. Und da er das Stockfechten schon seit einigen Jahren von Malik lernte, und regelmäßig mit Kaihala trainierte, hatte er beide trotzdem immer besiegt. Danach hatte Mariemma ihn kess mit ihren bernsteinfarbenen Augen angeblitzt und ihn gefragt, ob er ihr jetzt Zöpfe flechten könne. Wie eine Schwester eben. Oder doch nicht wie eine Schwester? Sie waren ja nicht im selben Zelt aufgewachsen. So gesehen war sie eher wie eine Cousine gewesen… Eine Cousine wie es auch Asara war…

Auf dem Ahal hatte er sie zuerst überhaupt nicht erkannt, und hätte sie beinahe übersehen. Ein niedliches herzförmiges Gesicht mit kleinen Amuletten in den Zöpfen war ihm aufgefallen, und er hatte nicht schlecht gestaunt, als er darin Mariemma erkannt hatte. Die schöne junge Frau mit den ausgeprägten weiblichen Formen hatte kaum noch Ähnlichkeit mit dem dürren Mädchen, an das er sich erinnerte. In der Tracht erwachsener Frauen, die bernsteinfarbenen Augen dunkel geschminkt, die Lippen indigoblau gefärbt schien sie beinahe ein anderer Mensch zu sein. Und dann hatte sie gelächelt. Ein Lächeln, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte. Er hatte förmlich fühlen können, wie der Anblick dieses Lächelns sämtliche Kälte aus ihm vertrieben hatte, unter der er jemals gelitten hatte. Es war ihm nicht einmal peinlich gewesen, dass Kaihala ihn hatte wegziehen müssen, weil er im Weg gestanden hatte, als er sich von diesem Anblick nicht hatte losreißen können.

Und wie sie seine Hand berührt hatte. Als hätte sie sein Herz gestreichelt. Sie war keineswegs die erste gewesen, der er nach einem Ahal seine Hand gereicht hatte. Wie sonst hätte man sich diskret verabreden können? Aber das war normalerweise kaum mehr als ein Austausch von Nachrichten. Mariemmas Berührung hingegen war so zärtlich, so liebevoll gewesen, wie er es noch niemals vorher erlebt hatte. Von dem Moment an, war er ihr bedingungslos ergeben gewesen. Als hätte sie in seinem Herzen eine Quelle zutage gefördert, aus der unablässig Zärtlichkeit sprudelte, die zu ihr zurückfließen wollte.

Alles danach war verlaufen wie in einem Traum, über den er keine Kontrolle mehr hatte, und doch erinnerte er sich überdeutlich an jede Einzelheit. An die Weichheit ihrer Haut, an ihren Duft, an…

Er fühlte, wie sein Herz schmerzhaft gegen seine Rippen drückte, ausbrechen wollte, um zu ihr zu fliegen. Sie nicht wiedersehen zu dürfen schmerzte ihn mehr als die Strapazen der überstanden Reise, einschließlich der Ungewissheit, ob sie es lebend bis zum nächsten Brunnen schaffen würden.

Eine bekannte Stimme riss ihn aus seinen Grübeleien.

„RASCHID!“ brüllte Idrissa und stürmte wütend auf ihn zu.

„Das war‘s mit unserer Freundschaft, du Schuft!“

Überrascht, und sich keiner Schuld bewusst, die einen solchen Ausbruch verursacht haben könnte, stand Raschid auf, richtete seine Kleider und trat ihm irritiert entgegen.

„Ich bewundere deinen Mut, Idrissa.“ sagte er mit einem leichten Anflug von Spott.

„Einen bewaffneten Asad zu provozieren, wenn man selbst unbewaffnet ist, erfordert schon einiges an Leichtsinn oder an Dummheit.“ Er klopfte leicht auf die Scheide seiner Takuba, die wie immer an seinem Gürtel hing.

„Also, was willst du von mir?“

Idrissa bremste zwei Schritte vor Raschid ab und starrte ihn vorwurfsvoll an.

„Wie konntest du?“ fragte er außer Atem. Er musste nahezu den ganzen Weg vom Lager der Kel Tahore bis zu ihm zu Fuß gelaufen sein, denn seine Kleider waren unordentlich und staubig, und es schien ihn nicht einmal zu kümmern. Raschid reichte ihm seinen Wasserschlauch.

„Hier, trink. Du siehst durstig aus!“ Widerwillig nahm Idrissa das angebotene Wasser an, trank einige große Schlucke und gab den Wasserschlauch dann zurück. „Wie konntest du?“ wiederholte er.

„Unser erstes Wiedersehen nach so vielen Jahren hatte ich mir eigentlich anders vorgestellt,Amidi-nin[20].“

sagte Raschid leise und bedauernd. „Also, setz dich, und verrate mir, was ich dir angetan haben soll. Es kann sich nur um ein Missverständnis handeln, denn ich will dir sicher nichts Böses.“

Stur blieb Idrissa stehen. „Nicht mir.“ grollte er „Meiner Schwester!“

Ein Stich ging durch Raschids Herz. „Mariemma.“ flüsterte er betroffen. „Was ist mit ihr?“

Der Blick, den Idrissa auf ihn richtete war pures Gift.

„Als ob du das nicht wüsstest! Sie konnte ja nicht wissen, dass eine Nacht mit einem Mädchen für dich nur eine Trophäe ist, und jetzt …“

Zorn kochte in Raschid auf und ehe er sich darüber klar werden konnte, was er tat, packen, seine Hände Idrissa bei den Schultern.

„Wer behauptet solche Dinge über mich? Und was heißt das überhaupt: … und jetzt …? … Und jetzt – was?“ fragte er mit gefährlich leiser Stimme und seine Augen schleuderten Blitze.

Erschrocken riss Idrissa sich los und wich einen Schritt zurück. Dort allerdings blieb er stehen und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

„Tu bloß nicht so unschuldig. Du weißt genau, wovon ich rede. Du kannst jede haben, die du willst. Wieso ausgerechnet Mariemma, die bis dahin nie in dieser Weise an dich gedacht hatte? Du warst wie ein Bruder für uns, und Brüder tun ihren Schwestern so etwas nicht an!“

Raschids Zorn verrauchte wie Staub im Wind und ließ nur Verwirrung zurück.

„Ich habe nichts getan, was sie nicht wollte, das schwöre ich dir.“ sagte er leise. „Und wir waren nicht wie Geschwister. Wenn ich wie ein Verwandter für euch war, dann eher wie ein Cousin. Das ist mir auch erst in den letzten Tagen bewusst geworden.“

„Das gibt dir nicht das Recht, sie erst mit irgendwelchen Tricks zu verführen, und dann fallen zu lassen, wenn sie … ach es scheint dir ja egal zu sein, wie sie sich fühlt.“ 

 „Ich wende niemals Tricks an.“ Stellte Raschid klar. Dann zog er den Schesch hoch bis dicht unter die Augen, damit Idrissa die Qual in seinem Gesicht nicht sehen konnte, aber die Augen konnte er nicht verhüllen, und er wusste, dass der Schmerz sich auch darin spielgelte. 

„Ich lasse sie nicht fallen, Idrissa, und ihre Gefühle sind mir ganz und gar nicht gleichgültig. Ich …  ich … darf nur nicht.“ Sagte er leise mit gequälter Stimme und wandet den Kopf zur Seite.

Verblüfft ließ sich Idrissa auf den Felsen fallen, auf dem Raschid zuvor gesessen hatte.

„Was soll das heißen? Auf dem Ahal hat es dich doch auch nicht gekümmert, was du darfst und was nicht.“

Raschid setzte sich zu Idrissa auf den Felsen, wandte ihm aber den Rücken zu.

„Auf dem Ahal konnte ich nicht mehr denken, nachdem sie so gelächelt hatte.“ gestand er leise.

„So hat mich noch nie ein Mädchen angesehen. Mit so einem Lächeln, als ginge mitten in einer kalten dunklen Nacht plötzlich die Sonne auf und überstrahle alles mit ihrer Wärme. Was glaubst du wohl, warum ich dagestanden und sie angestarrt habe wie ein Idiot? Das hat mir jedenfalls Tilila am nächsten Tag erzählt.“

Wider Willen musste Idrissa kichern. „Ja, das sah ziemlich lächerlich aus.“  Dann wurde er wieder ernst und in seiner Stimme klang noch immer Misstrauen mit. „Von so einem Lächeln hat sie nichts gesagt. Nur, dass du sie angesehen hast mit einem Blick, der bis tief ins Herz ging. Oder so ähnlich. Ist das dein Trick, mit dem du jedes Mädchen eroberst?“

Raschid schüttelte den Kopf. „Das war kein Trick, Amidi[21]. Und in dem Moment hatte ich überhaupt nichts Derartiges im Sinn, sondern ich habe nur gestaunt, wie schön sie geworden ist, nachdem ich sie zuerst überhaupt nicht erkannt hatte. Ich wusste auch nicht, dass sie es so empfunden hat. Seit Tagen grübele ich darüber nach, wie es so weit kommen konnte, und es führt immer wieder zur selben Antwort: Das, und nur das ist Liebe, und alles, was ich vorher dafür gehalten hatte, war in Wahrheit nur ein kleiner Vorgeschmack davon. Ich hatte immer eine vage Ahnung, dass wahre Liebe tiefer geht als das, was ich bisher kannte, und war die ganze Zeit über auf der Suche danach. Es ist nicht so, wie du denkst, dass mir die Mädchen nichts bedeutet haben, mit denen ich mich getroffen habe. Es war nur nie so, wie ich es mir vorgestellt hatte. So wie bei Malik und meiner Schwester Tudert. Aber bei Mariemma war es so. Ich denke die ganze Zeit an sie.“

Er konnte ein leichtes Seufzen nicht unterdrücken.

„Trotzdem muss ich darauf verzichten, weil mir meine Familie niemals erlauben wird, sie zu heiraten. Das haben sie mir schon am nächsten Tag unmissverständlich klargemacht. Verstehst du jetzt? Wenn ich es beende, bevor sie tiefere Gefühle für mich entwickelt, dann erspare ich wenigstens ihr den Kummer einer späteren Trennung.“

Idrissa stand auf und ging um Raschid herum, bis er ihm in die Augen sehen konnte.

„Dafür ist es ein bisschen zu spät, du Schafskopf. Das hat sie doch längst. Seit dem Morgen nach dem Ahal ist sie total verändert. Launisch, zerstreut, ständig müde als bekäme sie nachts kein Auge zu. Darum habe ich sie vorhin gefragt, was eigentlich mit ihr los ist. Es hat eine Weile gedauert, bis sie damit herauskam, dass es wegen dir ist. Weil du dich nicht bei ihr meldest, wo sie doch dachte, dass es für auch für dich etwas Besonderes war, genauso wie für sie. Sie war Wachs in deinen Händen hat sie gesagt, und dass noch keiner so zärtlich zu ihr war wie du. Mann, ich habe ja schon Gerüchte darüber gehört, dass du gut sein sollst, aber so gut? Also für mich klingt das schon nach raffinierten Tricks. Was meinst du, warum ich so wütend auf dich war?“

Raschid stand auf und blieb einen halben Schritt vor Idrissa stehen. „Das hat sie gesagt?“ fragte er überwältigt und umarmte Idrissa wie einen Bruder. Dann sagte er leise:

„Sag ihr, ich kann ihr keine Zukunft, keine Ehe versprechen. Wir hätten bestenfalls zwei Jahre, in denen sich niemand einmischen wird, mehr nicht - falls ich überhaupt so lange lebe, denn dass unsere Reisen gefährlich sind, habe ich ja nun erlebt. Sag ihr, ich lege mein Herz in ihre Hände, wie nach dem Ahal. Dann wird sie verstehen. Wenn sie mich sehen will, dann findet sie mich nach Sonnenuntergang am Rand eures Lagers, auf dem Weg zu dem Ort, wo wir uns nach dem Ahal getroffen haben. Ich werde dort auf sie warten. Die ganze Nacht, wenn es sein muss.“


 

Solange es dauern kann …

 

Unauffällig schlenderte Mariemma zum Rand des Lagers und spähte in die Dunkelheit. Die Nacht war kühl und sie zog ihr Wickelgewand enger um sich. Unzählige Sterne standen am Himmel, und das Licht des abnehmenden Mondes tauchte die Landschaft um sie herum in silbriges Licht. Leise wie ein Schatten huschte Raschid aus der Dunkelheit und reichte ihr seine Hand. Wieder war sie heiß trotz der Kühle der Nacht und sie bebte leicht, als Mariemma ihre ebenfalls bebende Hand hineinlegte. Ohne ein Wort zu sagen, führte er sie durch die Nacht bis zu der Stelle, an der sie sich nach dem Ahal getroffen hatten. 

 

Schon aus mehreren Schritten Entfernung sah Mariemma den Lagerplatz, den Raschid für sie beide errichtet hatte. Über seinen im Boden steckenden Speer hatte er eine Decke gespannt, so dass man darunter sitzen konnte, wie in einem kleinen Zelt. In der Nähe weidete sein Kamel, den Sattel hatte er abgenommen und neben die Decken gelegt. Davor war ein kleines Feuer vorbereitet, auf dem ein Teekännchen stand. Bei diesem Anblick wurde ihr warm ums Herz und sie lächelte selig.

Ehe Raschid sich ans Feuer setzen konnte, warf sich Mariemma in seine Arme. „Halt‘ mich fest.“ flüsterte sie. „Ich habe mich so nach dir gesehnt.“

Eine Weile standen sie eng umschlungen, jeder in den Armen des anderen geborgen und die Welt um sie herum hatte keine Bedeutung mehr. Raschids Hände streichelten sanft ihren Rücken. Mariemma seufzte leise und lehnte den Kopf an seine Brust und fühlte sein Herz dicht an ihrem schlagen. Warm, kräftig und lebendig. Wärme floss aus ihrem Herzen dem seinen entgegen, und sie fühlte, wie aus seinem Herzen Wärme zu ihr zurückfloss. Nach einer Weile ließ er sie los, trat einen Schritt zurück, und streichelte liebevoll ihr Gesicht. „Lass uns Tee trinken. Ich glaube, wir haben einiges zu besprechen.“ sagte er ernst.

Sorgfältig brühte Raschid den Tee auf, und reichte Mariemma dann ein Glas, wobei er behutsam ihre Finger steifte.

„Hat Idrissa dir alles ausgerichtet, was ich ihm aufgetragen habe?“ fragte er, als sie mit Teegläsern in den Händen am Feuer saßen.

Mariemma pustete in ihren Tee, um ihn abzukühlen und nippte dann daran. Nur zu gut erinnerte sie sich. Sie hatte mit einigem gerechnet, aber damit sicher nicht.

„Er hat gesagt, dass deine Familie dir niemals erlauben wird, mich zu heiraten, und dass du dich deshalb nicht bei mir gemeldet hast.“ erwiderte sie langsam und nachdenklich. „Nach allem, was Idrissa über dich zu wissen glaubte, hat mich das etwas überrascht. Wir haben uns ja lange nicht gesehen, und ich wusste nicht, ob er vielleicht Recht hat, auch wenn mein Herz mir etwas anderes sagte. Er hat das wohl von den Kel Ulli hier in der Gegend, aber vielleicht sagen sie das auch nur, weil sie neidisch auf dich sind. Die Frauen der Kel Ulli sagen jedenfalls noch andere Dinge.“ Mariemma lächelte verträumt, als sie sich daran erinnerte, wie Kherima für Raschid geschwärmt hatte und ein Anflug von Mitleid für ihre Freundin überkam sie. Es war wirklich nicht ihre Absicht gewesen, Kherima auszustechen, aber was zwischen ihr und Raschid passiert war, hatte mit Kherima nichts zu tun.

„Allerdings sagen sie auch, dass deine Beziehungen nie lange halten, das passt ja wieder zu dem, was Idrissa gesagt hat.“

Über sein Teeglas hinweg blickte Raschid mit einem unergründlichen Ausdruck in den Augen zu ihr hinüber. Bis tief in ihr Herz ging sein Blick, genauso wie auf dem Ahal, und eine Welle von Zärtlichkeit für ihn quoll in ihr auf.

Dann trank er seinen Tee aus und reichte Mariemma seine Hand. Trotz der abendlichen Kühle war sie warm und bebte leicht, als Mariemma sie festhielt. Warm und lebendig lag seine Hand in ihrer, und Wärme floss von dort direkt in ihr Herz. Die Schwielen von der Reise waren immer noch da, und wieder erschauerte er, als Mariemma mit bebenden Fingern sacht darüberstrich. Abermals entstand diese besondere Stimmung zwischen ihnen, die sie bis dahin nicht gekannt hatte.

„Idrissa sollte mir ausrichten, dass du dein Herz in meine Hände legst.“ flüsterte sie und schrieb das Wort in seine Hand.

„Und dass du wüsstest, ich würde verstehen, was du damit meinst. Einen so besonderen Moment wie diesen, und den Wunsch er möge niemals enden.“

 „Davon träume ich Tag und Nacht seit dem Ahal.“ flüsterte Raschid heiser. „Davon und von deinem Lächeln.“ Eine Weile saß er ihr schweigend gegenüber und gab sich mit geschlossenen Augen der Berührung hin. Als er weitersprach, schien seine Stimme von weither zu kommen.

„Weißt du, sie haben schon Recht, die Kel Ulli, aber das liegt daran, dass bisher noch keine mein Herz berühren konnte. Nicht so wie du es tust. Schon am nächsten Morgen wusste ich, dass es nun dir gehört, aber du warst weg, und Malik machte mir recht deutlich klar, wie meine Familie dazu stehen würde. Es schien leichter, ganz auf alles zu verzichten, was zwischen uns hätte werden können, als dir in zwei Jahren sagen zu müssen, dass es vorbei ist. Vor allem aber dachte ich, so würde es für dich leichter sein. Ich wollte dich nur vor Kummer bewahren.“

Er holte tief Luft und öffnete die Augen wieder. Seine Finger schlossen sich um ihre, und er streichelte ihre Finger mit den seinen.

„Erst Idrissa hat mir klargemacht, dass es dir ebenso ergangen ist wie mir, und nun liegt es bei dir. Ich werde nicht gegen den Willen meiner Familie handeln können, also haben wir bestenfalls zwei Jahre und mit Glück noch einige Monde dazu. Wenn das genug für dich ist, dann gehöre ich dir, solange es dauern kann.“

Ernst und eindringlich war sein Blick, den er auf sie richtete und ihr Herz flog ihm entgegen. 

„Sie sind miteinander verbunden, unsere Herzen.“ flüsterte Mariemma und rückte näher an ihn heran. „Das habe ich auch gefühlt. Ich hätte nur nicht damit gerechnet, dass du nach nur einer Nacht gleich ans Heiraten denkst. Wir sind doch erst 17.“

Raschid lächelte liebevoll und legte einen Arm um ihre Schulter. „Das habe ich vorher auch noch nie.“ gestand er leise. „Ich habe immer geahnt, dass es mehr geben muss als die üblichen Liebeleien. Dass echte Liebe tiefer geht als das, so wie bei Malik und meiner Schwester Tudert, die schon als Kinder ineinander verliebt waren. Ich bin mit diesem Bild von Liebe vor Augen aufgewachsen, und immer habe ich mich gefragt, warum das bei meinen Beziehungen nie so ist. Als ich dann am Morgen nach dem Ahal ohne dich aufgewacht bin, war da plötzlich die Gewissheit, dass ich sie gefunden habe. Bei dir.“

Mariemma schluckte. Seine Stimme klang so liebevoll, wie noch niemals zuvor einer mit ihr gesprochen hatte. Seufzend ließ sie sich in seine Arme fallen.

„Solange es dauern kann“ flüsterte sie. „will ich mit dir zusammen sein.“

 

 

Zwei Sterne am Himmel

 

Einen Tag vor dem zweiten Frühlingsvollmond saß Mariemma neben Raschid an ihrem gemeinsamen Treffpunkt.

„Morgen beginnt die Karawane nach Chetra“ sagte Raschid leise.  „Sie wird mindestens 40 Tage dauern.“

40 Tage dachte Mariemma und versuchte, nicht in Tränen auszubrechen, aber es gelang ihr nur teilweise. Zu schmerzhaft war der Gedanke, ihn nun längere Zeit nicht sehen zu können, nachdem sie gerade erst zueinander gefunden hatten.

Sacht nahm Raschid ihr Gesicht in beide Hände und wischte liebevoll die Tränen ab. Dann sagte er leise:

„Mariemma, wenn du einen Mann willst, der immer zu Hause ist, dann musst du einen Ened[22]heiraten. Eine Asad-Frau weint nicht, wenn ihr Mann auf Reisen gehen muss. Wir Asad sind so oft auf Reisen, dass ihre Tränen dann kaum Zeit hätten zu trocknen. Und dafür ist Wasser zu kostbar.“

Da war kein Tadel in seiner Stimme, nur die Feststellung einer Tatsache. Mariemma schluckte mühsam die restlichen Tränen herunter und flüsterte:

„Ich will keinen anderen, ob Ened oder nicht.“

Da nahm Raschid ihre Hand und zeigte ihr zwei Sterne am Himmel, die dicht nebeneinanderstanden.

„Sie stehen immer nah beisammen“ sagte er leise. „Ich beobachte sie seit dem Frühlingsfest. Der östliche ist Atri n Mariemma, weil Frauen das Leben schenken, so wie im Osten die Sonne aufgeht. Und der westliche ist Atri n Raschid, weil Männer Krieger sind und das Leben nehmen, so wie im Westen die Sonne untergeht. In jeder Nacht werden diese Sterne über uns am selben Himmel leuchten, wie weit wir auch voneinander getrennt sein mögen. Und wenn ich zurück bin, so Ormut will, treffen wir uns am Brunnen wieder.“

Am nächsten Morgen packte er seine Sachen zusammen, und Mariemma schlich zurück zum Zelt ihrer Eltern.

Jeden Abend ging sie zum Brunnen, holte Wasser für ihre Familie und hielt vergeblich nach Raschid Ausschau, obwohl sie ja eigentlich wusste, dass er noch nicht zurück sein konnte.

Kurz nach dem dritten Frühlingsvollmond verlegten die Kel Ashak ihr Lager zu einem anderen Brunnen. Einige Wochen später wurde auch das Lager der Kel Tahore verlegt, und Mariemma fragte sich, ob er sie dort wiederfinden würde. Zwar hieß es, dass ein Kel Ashak immer seinen Weg findet, aber es konnte so viel passieren in der Welt da draußen…

Auch zum neuen Brunnen ging sie jeden Abend, um Wasser für ihre Familie zu holen, und hielt jeden Abend vergeblich nach ihm Ausschau. Längst hatte sie die nähere Umgebung des neuen Lagerplatzes erkundet, und einen geeigneten Treffpunkt für das Wiedersehen gefunden. Jeden Abend blickte sie zu ihrer beider Sterne, und betete für Raschids sichere Heimkehr. 

Der Frühling verging, und der Sommer zog ins Land. Die Tage wurden heiß, und die Nächte mild. Mittlerweile waren vier Monde vergangen, seit jenem Fest, auf dem Raschid und Mariemma einander gefunden hatten, als er eines Abends am Brunnen stand und sein Kamel tränkte, als sei er nie weg gewesen. Mariemma wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen, doch er warf nur einen kurzen Blick zu ihr herüber und fuhr dann fort, sein Kamel zu tränken, als hätte er sie nicht gesehen. Zuerst war sie unsicher, ob er sie nicht sehen wollte, oder ob es wegen der anderen Leute war. Sie waren ja nicht allein, denn alle Leute aus der näheren Umgebung kamen abends zum Brunnen. Als Mariemma den gefüllten Wassersack aus dem Brunnen zog, half er ihr, das Wasser umzufüllen und streckte ihr dabei unauffällig seine Hand entgegen, sagte aber nichts. Erleichtert nahm sie seine Hand und malte den Weg zu dem von ihr erkundeten Treffpunkt hinein. Nachdem sie die Nachricht geschrieben hatte, nickte er nur, schwang sich auf sein Kamel und ritt würdevoll davon, aber nun wusste sie, dass er verstanden hatte, und dass er dort sein würde, wenn sie zum verabredeten Treffpunkt käme.

Und so war es auch. Raschid wartete am Rand des Lagers auf sie, und schon von weitem fühlte Mariemma, wie ihr Herz dem seinen entgegenflog. So sehr der Abschied auch geschmerzt hatte, so glücklich war das Wiedersehen, doch noch musste sie sich beherrschen und unauffällig hinter ihm hergehen, bis das Lager ihrer Familie außer Sichtweite war. Erst dann fiel sie ihm um den Hals, und Raschid legte beschützend seine Arme um sie. Sie hatte sich nur mühsam daran gewöhnt, dass die Kel Aschak es als unschicklich empfanden, in der Öffentlichkeit Zuneigung zu zeigen.

„Wenn ein Kel Aschak von einer Reise heimkehrt“ hatte er ihr erklärt „dann verhält sich seine Frau, als sei er niemals fortgewesen. Sie fällt ihm nicht um den Hals, wenn andere dabei sind. Das ist tut sie erst, wenn beide allein sind. Ich würde das Gesicht verlieren, wenn ich diese Regel breche.“

Nun aber, als nur noch die Sterne Zeugen ihrer Liebe waren, hielt er sie fest in seinen Armen und brachte es fertig ihr das Gefühl zu geben, er wäre wirklich nicht lange fortgewesen, und würde sie auch nie wieder alleinlassen. Dann nahm er ihre Hand, und führte sie zu dem kleinen Lagerplatz, den er für sie beide vorbereitet hatte. Wie immer hatte er eine Decke auf dem Boden ausgebreitet, auf der sie sitzen konnten. Davor hatte er seinen Speer in den Boden gesteckt, und eine zweite Decke darüber gespannt, so dass sie darunter sitzen konnten.  

Er hatte ihr aus Chetra ein neues Aleschu mitgebracht, das violett vor frisch eingefärbtem Indigo glänzte und einen blauen Schimmer auf ihrer beider Hände hinterließ. Glücklich drückte sie das Tuch an ihr Herz. Dann nahm sie ihr Aleschu ab, zog das neue über ihren Kopf und befestigte es mit den silbernen Spangen.

„Beim nächsten Ahal werde ich es erobern.“ sagte Raschid und blitzte sie schelmisch an. „Wenn du es zurückhaben willst, dann will ich dafür die Nacht mit dir verbringen.“

Er nahm ihre Hand und zeichnete mit sachten Berührungen die altbekannten Zeichen hinein. Mariemma schloss die Augen, gab sich seufzend den Berührungen hin und fühlt sich an das Ahal erinnert, auf dem alles begonnen hatte. Sie hielt seine Hand fest und streichelte liebevoll die einzelnen Finger, dann die Handfläche, und dann malte sie Zeichen, die so ziemlich das gleiche bedeuteten wie das, was er geschrieben hatte.

„Willst du damit wirklich bis nach dem nächsten Ahal warten, wenn du es doch auch gleich jetzt und hier haben könntest?“

Später lagen sie nebeneinander, hielten einander an den Händen, und betrachteten die Sterne.

 

****************

Mittlerweile war es Sommer geworden. Die Tage waren heiß, und die Nächtewarm. Wer konnte, verbrachte die Tage im Schatten liegend, und bewegte sich so wenig wie möglich. Raschid hatte nun wieder viel Zeit für sich. So oft es nur ging traf er sich mit Mariemma, und noch immer staunte er jedes Mal aufs Neue darüber, dass sein Herz zu so viel Liebe fähig war. Doch der heiße Sommer trocknete auch das Land aus. Die Brunnen führten nur noch wenig Wasser und nur noch wenig dürres Gras war zu finden, so dass die Lager häufig verlegt werden mussten. Nun mussten die Herden auf weit entfernte Weiden geführt werden. Raschid verbrachte manchmal ganze Tage bis spät in die Nacht mit der Suche nach verirrten Kamelen. Oft vergingen mehrere Tage, bis er sich wieder mit Mariemma treffen konnte.

Das Lager der Kel Aschak wurde höher in die Berge verlegt, wo es kühler war, und die Weiden noch grün. Als Wochen später die Kel Tahore ihr Lager ebenfalls dorthin verlegten, hatte Raschid schon einen passenden Treffpunkt gefunden. Dieses Mal war er es, der jeden Tag am Brunnen Ausschau nach ihr gehalten hatte, und ihr am liebsten entgegengerannt wäre, als er endlich ihr geliebtes Gesicht nach den langen Tagen der Trennung wiedersah. Natürlich tat er es nicht, das war er schließlich seiner Ehre als Kel Aschak schuldig. Wie bei seiner Rückkehr aus Chetra half er ihr, das Wasser aus dem Brunnen in die mitgebrachten Wasserschläuche zu füllen, und berührte dabei unauffällig ihre Hand. Als sie ihm ihre reichte, zeichnete er den Treffpunkt hinein, wartete ab, bis sie verstehend nickte, und ging dann würdevoll davon.

****************


Raschid brauchte nicht lange zu warten. Die Dämmerung war kaum hereingebrochen, als Mariemma sich auf den Weg zum Treffpunkt machte. Wie immer hatte er sie am Rand das Lagers der Kel Tahore erwartet. Ein Kel Aschak ließ eine Frau nicht allein durch die Dunkelheit gehen, sondern begleitete und beschützte sie. Vorher hatte er schon alles hergerichtet: das Feuer für den Tee, die Decke, auf der sie sitzen konnten, und die Decke, die er über seinen im Boden steckenden Speer gespannt hatte, damit sie beide es darunter gemütlich hatten. 

Sie waren kaum aus der Sichtweite des Lagers hinaus, als sie ihm schon in die Arme fiel. Sie würde wohl nie die vornehme Zurückhaltung einer Kel Aschak entwickeln, aber ihre Art, ungehemmt ihre Liebe zu zeigen berührte sein Herz immer wieder aufs Neue. Und ihr Lächeln. Besonders ihr Lächeln, das so warmherzig und liebevoll war.

Beim zweiten Glas Tee holte sie aus ihrer Tasche ein kleines ledernes Beutelchen hervor.

„Das habe ich selbst angefertigt.“ sagte sie mit diesem liebevollen Lächeln, das sein Herz immer wieder gefangen nahm.

„Es soll dich auf Reisen begleiten, damit du immer etwas von mir bei dir hast.“

Sie legte es in seine Hand und streichelte dabei liebevoll seine Finger. Gerührt betrachtete Raschid den kleinen Gegenstand. Es war ein Lederbeutel, der aus einem kleinen, kreisrunden Stück Leder geschnitten und aufwändig verziert war. An der Oberkante, rund um den Außenrand des Kreises, waren zwei dünne Lederbänder durch kleine Löcher gefädelt, damit man den Beutel damit zusammenziehen konnte. Einander gegenüber waren an der Oberseite zwei herzförmige Griffe angenäht, mit denen man ihn öffnen konnte. Gerührt drückte Raschid das Geschenk an sein Herz.

„Ich werde ihn immer bei mir tragen und in Ehren halten.“ sagte er leise. „Ich wünschte nur, ich könnte dir auch etwas so Persönliches schenken, das bei dir bleibt, wenn ich nicht bei dir sein kann. Aber alles was ich besitze haben andere angefertigt, und in den meisten Fällen war das deine Familie. Das Einzige wirklich persönliche, was ich dir schenken kann, sind mein Herz und mein Leben, und beides gehört dir schon seit jenem Ahal, bei dem wir uns gefunden haben.“ Es war eine Sache, auf Ahals mit blumigen Worten um sich zu werfen, aber Mariemma brachte ihn dazu, Dinge zu sagen, die er sich vorher nicht einmal in seinen kühnsten Fantasien hatte ausmalen können. Dinge, die er tatsächlich fühlte, die ihm gerade in dem Moment einfielen, in dem er sie auch schon aussprach.

Er befestigte den kleinen Beutel an seiner Schärpe, direkt neben seinem Stammesabzeichen und fuhr sacht mit den Fingerspitzen darüber. Dann bereitete er den dritten Aufguss zu und streichelte liebevoll ihre Fingerspitzen, als er ihr das Teeglas reichte.

„Mein Herz gehört dir auch.“ Sagte Mariemma leise. „Deshalb wollte ich ja, dass du etwas von mir bei dir tragen kannst. Ich weiß, dass bald die Salzkarawane beginnt, und dass sie bis zum Frühlingsfest dauern kann. Und in der langen Zeit soll es dich an mich erinnern.“

Raschid legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie an sich.

„Dazu braucht es keine Gegenstände, wie persönlich auch immer sie sein mögen.“ Sagte er leise und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren.

„Schon auf der Reise nach Chetra habe ich dein Bild in meinem Herzen getragen und es schien mir, als würde es mir den Weg nach Hause weisen. Zu dir.“ Er seufzte kaum hörbar. „Ich wünschte nur, wir könnten heiraten, denn ich kann mir keine andere Frau an meiner Seite vorstellen als dich.


[1]Taklit = Sklavin

[2]Schesch = Tuch, aus dem Turban und Schleier gewickelt werden

[3]Anubi= kleiner Junge, Anubi-ni = mein keiner Junge

[4]Anesbarid = Karawanenführer

[5]Taraw-i = meine Tochter

[6]Abarad = Held, hier: Überlebender (muss irgendwie verwand sein mit Abarid = Weg)

[7]Azerrid n Erslerna = Band des Sieges (über die eigene Schwäche)

[8]Das ist eine Eigen-Erfindung von mir

[9]Djings sind die silbernen Abzeichen für jede Art von besonderer Leistung, die Asad an ihrer Schärpe tragen

[10]Inaden = Handwerker, Schmiede (EZ = Ened)

[11]Ahal = treffen unverheirateter junger Leute, bei dem die Männer um die Gunst der Frauen wetteifern. Wenn zwei    aneinander Gefallen finden, können sie sich danach diskret verabreden, und dann ist alles möglich…

[12]Kel Ulli = Ziegenleute (Vasallen, die den Asad tributpflichtig sind)

[13]Atri = Stern

[14]Amedray = jüngerer Bruder

[15]Imnai = Genehmigung für Intimitäten (ja, das gibt es wirklich! Ich habe es von der Vokabelliste einer Ethnologin)

[16]Aleschu = Kopftuch

[17]Takuba = Schwert

[18]Imghad = Vasallen

[19]Inaden = Handwerker, Schmiede (EZ = Ened)

[20]Amidi-nin = mein Freund

[21]Amidi = Freund

[22]Ened = Handwerker, Schmied (MZ = Inaden)


Teil II 


Heiratspläne

 

Zwei Jahre waren vergangen seit jenem Ahal, auf dem Raschid die Liebe seines Lebens gefunden hatte. In den letzten zwei Jahren hatten sie sich bei jeder Gelegenheit getroffen, und niemand hatte Einspruch dagegen erhoben, nur besorgte Blicke wurden gelegentlich auf ihn gerichtet. Er wusste selbst, dass die sorglose Jugendzeit bald zu Ende gehen würde, aber daran mochte er nicht denken, solange es sich vermeiden ließ. Auch Mariemma erwähnte das Thema nie, obwohl es bei ihr ähnlich sein musste. Insgeheim hatte er manchmal gehofft, seine Liebe zu ihr würde nachlassen, und ihre zu ihm ebenfalls, doch ihm erschien es eher so, als hätte das kleine Samenkorn der Liebe feste Wurzel in seinem Herzen geschlagen, wo es mittlerweile zu einem stattlichen Baum herangewachsen war. Desto kostbarer waren die gemeinsamen Stunden, die sie füreinander reservieren konnten. Wieder lagen Monate der Trennung hinter ihnen, und wie immer hatte ihr Bild in seinem Herzen ihm geholfen, alle Strapazen, die die Salzkarawane mit sich brachte, leichter zu ertragen. Als sie nun endlich den heimatlichen Brunnen erreichten, tat er mechanisch seinen Teil an der Arbeit zur Tränkung der Kamele, und blickte sich dabei unauffällig um. Platschend fiel der Ledersack ins Wasser und riss ihn aus seinen Träumen. Mit aller Kraft zog er daran, förderte das kostbare Nass zutage und goss es in die Trinkschüsseln der Kamele. Wieder blickte er sich um. Immer mehr Daheimgebliebene aus beiden Lagern kamen am Brunnen zusammen, begrüßten freudig Freunde und Verwandte und geleiteten sie nach Hause. Tilila, die im vergangenen Jahr geheiratet hatte, begrüßte ihn überschwänglich, und hielt dabei unauffällig nach ihrem Ehemann Asfru Ausschau. Raschid deutete dezent in die Richtung, in der Asfru sein Kamel tränkte, und ließ noch einmal seinen Blick über die anwesenden Frauen schweifen. Wie gezogen glitt sein Blick gleichmütig über alle anderen hinweg, bis er endlich ihr geliebtes Gesicht in der Menge entdeckte. 

 

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Mariemma wurde warm uns Herz, als sie Raschid am Brunnen stehen sah. Er sah sie nicht an, aber wie jedes Mal half er ihr, den Wasserbeutel umzufüllen, und berührte dabei unauffällig ihre Hand.

Endlich begann es zu dämmern. Mariemma hatte den halben Tag damit verbracht, ihre Zöpfe, die Idrissa ihr frisch geflochten hatte, mit Amuletten zu schmücken. Sie zog ihr bestes Gewand an, legte ihren schönsten Schmuck an, und machte sich auf den Weg. Raschid wartete in seinen besten Gewändern an Rand des Lagers auf sie, und ging unauffällig vor ihr her bis zu dem Platz, den er für ihr Treffen vorbereitet hatte. Wie üblich hatte er eine Decke wie ein kleines Zelt über seinen Speer gespannt, und davor Feuerholz bereitgelegt, damit er Tee kochen konnte.

„Zuhause!“ seufzte Mariemma leise und fiel ihm in die Arme.

Ja, es tat jedes Mal weh, wenn er auf Reisen gehen musste, aber desto größer war auch jedes Mal die Wiedersehensfreude. Dieser Moment, wenn er am Brunnen stand und sein Kamel tränkte, als sei er nie fort gewesen. Sie hatte sich mühsam daran gewöhnt, vor Anderen Haltung zu bewahren, aber hier an ihrem geheimen Treffpunkt waren sie allein, und sie durfte endlich zeigen, was sie fühlte. Durfte sich glücklich in seine Arme kuscheln und die Welt um sich herum vergessen. Erst als sie sich voneinander lösten, fiel ihr der ernste Ausdruck in seinen Augen auf.

„Meine Leute bedrängen mich allmählich, mir eine passende Frau zu suchen.“ sagte er leise, als sie am Feuer saßen und Tee tranken.

„Eine Kel Aschak, vorzugsweise einer meiner Cousinen.“

Obwohl sie gewusst hatte, dass dieser Tag kommen würde, traf die Nachricht Mariemma wie ein Fausthieb ins Gesicht.

„Jetzt schon? Es kommt mir vor, als wäre es erst gestern gewesen, dieses Ahal. Und gleichzeitig, als wären wir schon unser ganzes Leben lang zusammen. Wie können deine Leute ernsthaft von uns erwarten, dass wir uns trennen, wo es sich doch fast so anfühlt, als wären wir verheiratet.“

„Dies wird mein zwanzigster Sommer, und ich habe bisher noch an keiner geeigneten Kandidatin auch nur das geringste Interesse gezeigt. Also fangen sie jetzt schon an, auf mich einzuwirken." Seine Stimme klang bemüht sachlich, doch sie zitterte leicht.

Aufseufzend barg Mariemma ihr Gesicht an seiner Brust, atmete den Geruch seiner Kleider ein, kostete den intimen Moment aus, als wäre es das letzte Mal.

"Auch meine Leute drängen mich zur Heirat. Ich habe mehrere Cousins im passenden Alter, und die meisten sind noch nicht verheiratet." flüsterte sie und klammerte sich an ihn.

"Ich könnte mir sogar einen aussuchen, aber ich will keinen anderen als dich, Raschid! Wie kann das Leben so grausam zu uns sein?" Ihre Stimme versagte und Tränen quollen aus ihren Augen.

Durch den Stoff ihrer Gewänder hindurch spürte sie, wie Raschids Hände bebten, als er tröstend ihren Rücken streichelte. Eine Weile hielt er sie nur fest, dann löste er sacht ihre Arme, die sie um ihn geschlungen hatte und stand auf.

 "Nein!" sagte er entschlossen. "Ich werde uns nicht kampflos aufgeben!" Er streckte ihr seine Hand entgegen und zog sie neben sich hoch. Als sie einander dann gegenüber standen nahm er behutsam ihre Hände in seine und blickte ihr lange und ernst in die Augen.

"Mariemma Ult Samil" sagte er feierlich "willst du, dass ich alles in meiner Macht Stehende tue, damit du meine Frau werden kannst?"

Die Worte waren eher ungewöhnlich für einen Heiratsantrag, aber Mariemmas Herz machte einen Hüpfer und ihre Hände zitterten in seinen, als sie heftig nickte.

 Am nächsten Tag beauftragte er Idrissa, mit beiden Familien über eine Heirat zwischen ihm und Mariemma zu verhandeln.

 

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Der Frühling neigte sich seinem Ende entgegen und damit auch Raschids 20. Lebensjahr. Die Reise nach Chetra stand bevor und Idrissas Verhandlungen mit beiden Familien liefen nicht sonderlich gut. Raschid hatte auch schon selbst mit Mariemmas Eltern gesprochen, die einer Heirat zwischen ihm und Mariemma ebenso ablehnend gegenüberstanden, wie seine eigene Familie.

Zwei Tage vor der Abreise nach Chetra lud Tudert Raschid zu sich in ihr Zelt ein.

„Lass uns reden, Amedray.“ sagte sie mitfühlend.

„Erzähle mir von ihr. Was findest du nur so einzigartig an ihr, dass du all dies auf dich nimmst?“

Raschid blickte respektvoll an ihr vorbei, einen ernsten Ausdruck in den Augen.

"Ich habe mir das nicht ausgesucht, glaube mir." sagte er langsam und nachdenklich. "Sie ist einfach die Einzige, die mein Herz berührt hat. Ich meine wirklich berührt, auf eine Weise, von der ich bis dahin nicht einmal gewusst hatte, dass es das gibt." Raschid legte eine Hand auf sein Herz und berührte dabei unauffällig den kleinen Lederbeutel, den Mariemma für ihn gefertigt hatte.

„Gerade du müsstest das doch verstehen, Tameqqart. Was hättest du getan, wenn man dir nicht erlaubt hätte, Malik zu heiraten? Was hätte Malik getan? Ihr hättet euch sicher auch nicht widerspruchslos gefügt."

"Nein" sagte Tudert leise "das hätten wir wohl nicht. Malik wäre barfuß allein durch die Erg Achab gelaufen, wenn das nötig gewesen wäre, um die Einwilligung der Familie zu erhalten."

"Genauso geht es mir jetzt." Seufzte Raschid mit bedrückter Stimme, doch ein winziger Hoffnungsstrahl glomm in seinem Herzen auf.

" Glaubst du, dass es etwas nützen würde, wenn ich das täte?"

"Sei nicht töricht!" schalt ihn Tudert, nun ganz ältere Schwester, die schon früher häufig die Mutterrolle übernommen hatte. "Du würdest es nicht überleben, und was würde das deinem Mädchen nützen? Zu einem Grab kann man nichts als Steine bringen. Wenn überhaupt, dann müsstest du ihre Familie beeindrucken, und sie unsere. Aber ich wüsste nicht, wie das möglich sein sollte."

Raschid rang verzweifelt die Hände.

"Wenn sie sehen, wie ernst es mir ist…"

"Oh, das wissen sie!" erwiderte Tudert trocken. "Sie sehen nur nicht, dass etwas Gutes dabei herauskommen könnte. Ihre Leute sind Inaden Raschid." betonte sie ernst.

"Was denkst du, wo ihr leben könntet? Der Vorschlag dieses Ened, dass ihr einfach euer Zelt zwischen beiden Lagern aufstellt, und jeder weiterhin bei seiner Familie seinen Verpflichtungen nachkommt, ist doch absurd. Du kannst nicht ewig zwischen zwei Welten leben; unserer und der der Inaden. Du bist ein Kel Aschak, Raschid, ein Abarad, trägst das Azerid n Erslerna und bist auf dem besten Weg, ein Anesbarid zu werden, wie du es dein Leben lang angestrebt hast. Aber wenn du keine Kel Aschak Frau heiratest, werden auch deine Kinder keine Kel Aschak sein, und du bist für den Stamm verloren. Ist es das wert, nach allem, was du gelernt, was du schon für den Stamm geleistet hast?"

Betreten blickte Raschid zu Boden. So sehr ihre Worte auch in seinem Herzen schmerzten, musste er doch zugeben, dass sie recht hatte. Tudert war schon immer eine kluge Frau gewesen, und eines Tages würde sie eine gute Kaida sein.

Doch das nützte ihm nichts, wenn auch sie sich gegen ihn stellte, wie es seine Mutter und vor allem seine Großmutter taten. Andererseits aber machte es keinen Unterschied, ob sie für oder gegen ihn war. Sie wäre ohnehin zu jung gewesen, als dass seine Großmutter sich von ihr hätte umstimmen lassen. Da wäre schon der Beistand einer älteren, weiseren Person nötig…



Teil III


Der Rat der weisen Tissum

 

Auf der Reise nach Chetra, nachdem seine Familie angedeutet hatte, dass er Mariemma nicht heiraten darf, sucht Raschid die weise Frau Tissum auf und fragt sie um Rat.

Das Zelt am Rande von Chetra sah aus, wie die Zelte seiner eigenen Familie und die alte Frau, die davor auf einem bunten Teppich im Schatten saß, hätte seine eigene Großmutter sein können. Raschid hatte die weise Tissum bisher noch nie allein aufgesucht, doch auf den Handelskarawanen nach Chetra hatten sein Vater und sein Onkel ihn, seinen Bruder und seine Cousins immer mit zu ihr genommen, um ihr die Ehrerbietung seiner Familie zu erwiesen. Bei diesen Gelegenheiten hatte er, als der jüngste, allerdings immer nur bescheiden im Hintergrund gestanden, wenn sich die Älteren unterhalten hatten. Der weisen Frau nun allein gegenüberzustehen, die ganze Macht ihrer Persönlichkeit auf sich allein gerichtet zu fühlen, verunsicherte ihn mehr, als er erwartet hatte.

„Ich erweise dir meinen Respekt, Tamrart[1]Tissum“. sagte Raschid leise, zog seine Sandalen aus und trat zu ihr auf den Teppich, nachdem die alte Frau ihn zu sich herangewinkt hatte.

„Ich bin Raschid Ag Areschar von den Kel Aschak aus der Djebel-Al-Ghussat.“

Die alte Frau musterte ihn skeptisch. „Und was willst du von mir, Raschid Ag Areschar von den Kel Aschak? Willst du ein Amulett kaufen?“

Ehrerbietig blickte Raschid zu Boden. Der Teppich unter seinen Füßen kräuselte sich etwas, als er seine nackten Zehen verlegen hineingrub.

„Es heißt, dass viele Leute auf deine weisen Ratschläge hören. Ich erbitte einen Rat von dir.“

Ein amüsiertes Funkeln trat in die Augen der alten Frau.

„Soso, einen Rat willst du. Solltest du nicht besser deine Familie um Rat fragen als eine Fremde wie mich? Wie alt bist du denn?“

Raschid fühlte, wie sein Gesicht vor Verlegenheit rot anlief und er hoffte, dass die weise Frau es nicht sehen konnte. Nervös nestelte er an seinem Schesch[2]und zog ihn bis dicht unter die Augen.

„Ich wurde kurz vor dem ersten Sommervollmond vor 20 Jahren geboren.“ antwortete er scheu.

Dann holte er tief Luft, und seine Hand klammerte sich um den Griff seiner Takuba[3].

 „Meine Familie kann ich nicht fragen,“ begann er dann leise „deshalb bin ich zu dir gekommen. Und ich kann dafür bezahlen.“

Aus einem Lederbeutel an seiner Schärpe holte er einige Silbermünzen hervor.

„Na schön, setz dich.“ sagte die Alte und nahm die Münzen entgegen. „Tarsa, bring uns Tee.“  

Aus dem Zelt hinter Tissum kam eine junge Frau hervor; die Urenkelin der Tamrart, wie Raschid wusste, denn beide Frauen waren in ganz Chetra bekannt. Mit geschmeidigen Bewegungen verließ die junge Frau das Zelt ihrer Urgroßmutter.

„Also, um was geht es?“ fragte Tissum, nun doch neugierig geworden, als Raschid sich gesetzt hatte.

„Es gibt da ein Mädchen…“ begann Raschid schüchtern und seine schmalen kräftigen Hände spielten nervös mit den Fransen an der Scheide seiner Takuba.

„Und sie erwidert deine Zuneigung nicht?“ fragte Tissum. „Willst du einen Talisman kaufen, damit sie…“

„Nein!“ platzte Raschid heraus, schockiert darüber, dass ausgerechnet eine Tamrart der Asad auf eine solche Idee kommen konnte. Ihm selbst wäre dergleichen nie in den Sinn gekommen.

„Niemals würde ich etwas so Unehrenhaftes tun, wie die Liebe einer Frau erzwingen zu wollen, auf welche Weise auch immer!“ rief er empört aus. Erst dann wurde er sich der Respektlosigkeit seines Tonfalls bewusst, und er senkte beschämt den Kopf.

„Enschahid[4], Tamrart Tissum.“ murmelte er betreten.

 Zu seiner Verwunderung zog ein leichtes Lächeln über Tissums runzeliges Gesicht.

„Gut, du hast meinen Test bestanden.“ bemerkte sie zufrieden. „Ob du es glaubst oder nicht, du wärest bei Weitem nicht der Einzige, der mit einem solchen Ansinnen zu mir kommt. Nun, du bist also ein junger Mann von Ehre, ja? Ganz wie es der Name deines Stammes ausdrückt. Ich kenne deine Leute. Ihr habt im Auftrag der weißen Königin vor acht Jahren die Räuberbanden aus der Djebel-Al-Ghussat vertrieben und euch selbst dort angesiedelt. Seitdem bewacht ihr die umliegenden Karawanenwege und bringt regelmäßig Salz nach Chetra. Die Gebühren, die Euch die Stadtverwaltungen dafür zahlen, dass ihr die Karawanen beschützt, anstatt Wegzoll von ihnen zu kassieren, sind eine gute Investition für alle, wie man hört.“

Hastig nickte Raschid, der immer noch etwas verwirrt war. Er verkniff sich die Frage, wieso sie ihm Dinge erzählte, die er sowieso schon wusste. Es wäre respektlos gewesen. Also schwieg er, bis sie die nächste Frage an ihn richtete.

„Und was willst du nun von mir?“

Unter Tissums forschenden Blick fühlte sich Raschids Kopf wie leergefegt an. So sorgfältig er sich die Worte auch zurechtgelegt hatte, die er an sie hatte richten wollen, nun wollte ihm keines davon mehr einfallen.

Tarsas Rückkehr verschaffte ihm etwas Zeit zum Nachdenken, denn diese reichte ihm ein Glas Tee. Er schmeckte bitter, ganz so, wie es der erste Aufguss tun sollte. Bitter wie das Leben, wie passend dachte er zynisch.

 „Sie heißt Mariemma“ begann er schließlich zögernd. „Ihre Augen leuchten wie die Sterne am Nachthimmel. Und ihr Lächeln ist, als ginge mitten in einer eiskalten Nacht plötzlich die Sonne auf." Seine Stimme verlor sich in Erinnerungen an ihr geliebtes Gesicht und seine Hände streichelten behutsam den kleinen Beutel an seiner Schärpe, den sie für ihn gefertigt hatte.

„Süße Worte, junger Raschid, und passend, um auf einem Ahal[5]das Herz einer jungen Frau zu gewinnen. Aber was willst du mir damit sagen?“

Raschid nippte verlegen an seinem Tee. Als er sah, dass Tissum und Tarsa ihre Gläser leer tranken, tat er es ebenfalls, und gab Tarsa dann das leere Glas zurück. 

„Seit wir uns vor zwei Jahren auf einem Ahal begegnet sind, gehört ihr mein ganzes Herz“ gestand er leise „und sie erwidert meine Zuneigung. Sie ist die Freundin meines Herzens, und sie sagt, dass ich auch der ihre bin. Nun wünschen wir uns nichts sehnlicher als heiraten zu dürfen. Aber ihre Leute sind Inaden, und unsere Familien erlauben es nicht.“

Nun, da die erste Verlegenheit überwunden war, sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus.

Er wusste, dass Tissum der weißen Königin nahestand, und weithin berühmt war für ihre Weisheit. Wenn sie keinen Rat wusste, dann würde es auch keinen geben.

Raschid fühlt den nachdenklichen Blick der Tamrart auf sich gerichtet.

„Inaden[6], sagst du? Und deine Leute sind Asad? Willst du denn ein Ened[7]werden? Du würdest ja bei der Familie deiner Frau leben, wenn du heiratest.

„Ich kann kein Ened werden!“ erwiderte Raschid aufrichtig verblüfft. „Ich bin ein Asad, ein Kel Aschak. Wir züchten Kamele, führen Karawanen und beschützen die Leute in unserem Revier – ja, und auch die Karawanenwege, wie du ja schon erwähnt hast. Das ist es, was ich kann, was ich gelernt habe, was ich bin. Wie könnte ich versuchen, etwas anderes zu sein? Außerdem heißt es, die Inaden könnten zaubern, aber ich kann das sicher nicht. Wie könnte ich also ein Ened werden?“

„Oh, nicht alle Inaden können zaubern“ erklärte Tissum. „Du könntest durchaus ein Ened werden, ohne zaubern zu können. Ein Aberu[8], vielleicht sogar eine Takuba zu schmieden kann jeder lernen, wenn er will. Und wenn es dir so ernst ist mit deinem Wunsch, dieses Mädchen heiraten zu dürfen, warum bietest du es ihrer Familie nicht an?“

Raschid schwieg betroffen. Damit hatte er nicht gerechnet. Er und ein Ened werden? Für die Asad waren die Inaden kaum mehr als Iklan[9], trotz ihrer Zauberfähigkeiten. Es wäre ein gewaltiger Abstieg vom adeligen Asad-Krieger zum Ened. Umgekehrt wäre es für Mariemma ein ebenso gewaltiger sozialer Aufstieg, seine Frau zu werden - wenn sie denn in seiner Familie willkommen wäre. War das wieder so ein Test, mit dem Tissum seine Gesinnung auf die Probe stellen wollte? War da nicht etwas Lauerndes in ihrer Stimme gewesen? Er war sich nicht sicher.

 Tarsa brachte den zweiten Aufguss des Tees, und verschaffte Raschid damit abermals Zeit zum Nachdenken. Süß wie die Liebe dachte er wehmütig, als er an dem heißen Getränk nippte.

„Ihre Leute wollen, dass sie einen Ened heiratet.“ sagte er schließlich zögernd.

„Einen, der das Handwerk schon beherrscht. Selbst wenn ich es ihnen anbieten würde, wäre ich ja nur ein Anfänger und dann vermutlich nicht gut genug für sie.“

Die Worte blieben ihm fast im Hals stecken und er blickte schamhaft zu Boden. Er, ein Asad und nicht gut genug für eine Inadentochter? Welch absurde Vorstellung, aber aus der Sicht der Inaden würde es wohl so aussehen, wenn er ernsthaft versuchen würde, einer von ihnen zu werden.

Und nein, er hatte natürlich nicht daran gedacht, Mariemmas Familie das anzubieten. Es wäre zu weit unter seiner Würde gewesen, dergleichen auch nur in Erwägung zu ziehen. Doch nun, da Tissum es erwähnt hatte, begann er sich zu fragen, ob er wirklich bereit wäre, so tief zu sinken…

Das Grinsen in ihrem Gesicht irritierte ihn. Verunsichert stellte er das noch halbvolle Teeglas auf das Tablett, das zwischen ihnen auf dem Teppich stand und knetete nervös seine Hände.

„Du willst es nicht, weil es unter deiner Würde als Asad ist!“ sagte sie ihm auf den Kopf zu. „Warum gibst du es nicht einfach zu, anstatt Ausreden zu suchen?“

Verlegen umklammerten Raschids Hände die Lederscheide seiner Takuba, als könnte er sich daran festhalten. Das eben war der Unterschied zwischen Asad und Inaden. Sie fertigten die Waffen an, und die Asad wussten sie zu gebrauchen. Sollte er ernsthaft versuchen, ein Ened zu werden, dann wäre alles, was er bisher gelernt hatte nichts mehr wert.

Da er noch mit einer Antwort zögerte, sprach Tissum weiter:

„Denkst du wirklich ernsthaft darüber nach, ein Ened zu werden? Willst du zweitklassige Waffen für die Söhne deiner Schwestern schmieden, die dann von ihnen abgelehnt werden, weil sie nicht gut genug sind? Willst du zusehen, wie deine Kinder glühendes Eisen bearbeiten müssen, während die Kinder deiner Schwestern für diejenigen Aufgaben vorbereitet werden, die einst auch die deinen waren?“

Vor dem Blick dieser azurblauen Augen gab es kein Entrinnen, und es gab auch keine Antworten, mit denen er halbwegs seine Würde wahren konnte.

„Nein, Tamrart“ murmelte er kleinlaut. Die Takuba gab seinen nervösen Händen etwas Halt, aber er fühlte sich trotzdem alles andere als wohl.

Tissum nickte zufrieden, als hätte sie nichts anderes erwartet.

„Schön!“ sagte sie schlicht. „Das kommt also nicht infrage. Gut, dass du das einsiehst, denn du wärest eine Schande für alle Asad, wenn du es tatsächlich versuchen würdest. Liebe ist schön und gut, aber kein Asad sollte so tief sinken, dafür seine Ehre und seine Würde aufzugeben! Zudem würde deine Schande auch auf deine Familie zurückfallen, und das willst du doch sicher nicht!“

„Nein, will ich nicht.“ seufzte Raschid, trank seinen Tee aus und stellte das leere Glas zurück auf das Tablett. Er schwankte zwischen Erleichterung darüber, dass sie nicht ernsthaft von ihm erwartete, ein Ened zu werden, und der bangen Frage, ob sie überhaupt eine Idee für eine Lösung hatte.

Aber anstatt ihm eine Lösung zu präsentieren, stellte sie ihm eine weitere Frage:

"Was hast du denn bisher unternommen?"

Nun, das immerhin konnte er beantworten. Er setzte sich aufrechter hin, und stellte stolz den Plan vor, den er mit Mariemma und Idrissa erdacht hatte. Eine sehr vernünftige Idee war das, gegen die es nun wirklich keinerlei Einwände geben konnte. Tissum davon zu erzählen gab ihm etwas Selbstsicherheit zurück.

"Wir haben uns eine Lösung überlegt, und ihr Bruder vermittelt für uns, aber von unserem Vorschlag wollen beide Familien nichts wissen. Ich verstehe überhaupt nicht, wo sie das Problem sehen. Wir hätten unser eigenes Zelt, das wir aufstellen können, wo wir wollen. Was spricht dagegen, dass wir es bei Mariemmas Familie aufstellen, wenn ich mit den Karawanen unterwegs bin, und zwischen beiden Lagern, wenn ich zuhause bin? Wir sind alle Nomaden, und ziehen sowieso ständig um. Es wäre nicht einmal ein weiter Weg, denn ihre Leute schlagen ihr Lager selten mehr als einen halben Tagesmarsch von unserem entfernt auf. Aber sie wollen es einfach nicht. "

Die Weise Frau hatte aufmerksam zugehört, als er sich langsam in Rage geredet hatte, und ihn nicht unterbrochen, doch der Ausdruck in ihren Augen wirkte beinahe belustigt.

"Du verstehst schon, wo das wahre Problem liegt, ja?" fragte sie dann in diesem typischen Tonfall älterer Frauen, die einem Kind sagen wollen, dass es sich nicht dümmer stellen soll, als es ist.

Seine Großmutter beherrschte diesen Tonfall ebenfalls, wie er aus Erfahrung wusste, und seine aufkeimende Selbstsicherheit verpuffte wieder. Verlegen zupfte er an den Dschings an seiner Schärpe. Es waren noch nicht viele, aber auch er hatte schon gegen Räuber gekämpft, und sogar einige getötet. Das brachte es eben mit sich, wenn man zu den Wächtern der Karawanenwege gehörte und ihm kam das weitaus ehrenvoller vor, als Karawanen zu überfallen, wie die anderen Asad-Stämme in den öden Hügeln es taten.

Der strenge Blick der alten Frau schien ihn zu durchleuchten, und Gedanken zutage zu fördern, die er längst vergessen hatte. Geschichten, die ihm seine Mutter erzählt hatte, als er klein gewesen war: Über die Geister in der Wüste, die einen Wanderer in die Irre führten, über böse Hexen, die aufrechte Krieger verführten. Warnungen, dass man sich vor den Inaden in Acht nehmen solle, weil auch sie zaubern konnten, und man ihnen deshalb nicht trauen könne. Während er noch darüber nachsann, worauf Tissum mit ihrer Frage hinauswollte, traf ihn die Erkenntnis wie ein Donnerschlag.

"Sie haben Angst vor Mariemma!" flüsterte er schockiert. "Sie geben es nicht zu, aber sie haben Angst vor ihr!" Die zweite Erkenntnis, die sich daraus ergab, traf ihn noch heftiger und von seinem erstarrenden Herzen kroch Grabeskälte in seine Glieder.

"Sie werden … sie können ihr niemals erlauben ein Teil unserer Familie zu werden, wenn sie sich vor ihr fürchten. Wie in diesen Geschichten, wo ein Krieger von einer Hexe verführt wird, die dann den ganzen Stamm ins Unglück stürzt. Oh, allmächtige Ormut, wie können sie so etwas über Mariemma denken? Sie ist einer der sanftmütigsten Menschen, die ich kenne!" Raschid rang verzweifelt die Hände, als er Tissum unschicklich lange eindringlich in die azurblauen Augen blickte. Gelassen erwiderte die Tamrart seinen Blick, bis er sich seiner Dreistigkeit bewusstwurde, und schuldbewusst den Blick senkte. Seine nervösen Hände versuchten Zöpfe in die Fransen an der Scheide seiner Takuba zu flechten, doch die zu kurzen bunten Zotteln rutschten immer wieder aus seinen Fingern. Er gab es auf und strich sie liebevoll wieder glatt.

Tissum ließ ihm Zeit, sich wieder zu besinnen.

"Gut" sagte sie dann. "Du hast es also verstanden. Damit dürfte auch klar sein, dass es völlig belanglos ist, wo ihr euer Zelt aufstellt, wenn das Problem in Wirklichkeit anderswo liegt. War dir das denn nicht klar?"

 Raschid zögerte. Nun, da Tissum ihn geradezu mit der Nase draufgestoßen hatte, fielen ihm all die Geschichten und Warnungen wieder ein, die er so lange ignoriert hatte, bis er nur noch Märchen in ihnen gesehen hatte, mit denen man bestenfalls kleine Kinder erschrecken konnte.

"Wir sind schon so lange befreundet, Mariemma, Idrissa und ich …" sagte er leise.

"Ich hatte vergessen, dass all diese Geschichten und Warnungen für die anderen nicht nur einfach Märchen sind, die nichts bedeuten. Aber Mariemma ist nicht so! Sie ist liebevoll und warmherzig und würde niemals jemandem Schaden zufügen." Unwillkürlich drückte er den Beutel, den sie für ihn gefertigt hatte, an sein Herz.

Tissums Blick war seiner Geste gefolgt.

"Meinst du nicht," fragte sie lauernd, "dass eine Hexe, die Unglück über deine Familie bringen will, dich genau das glauben machen würde?" Dann streckte sie unvermittelt ihre Hand aus.

"Das ist von ihr, nicht wahr? Gib es mir!"

Gehorsam löste Raschid den Beutel von seiner Schärpe und reichte ihn der Tamrart. Er hatte sie aufgesucht, weil sie für ihre weisen Ratschläge berühmt war, aber ihre Aufforderung brachte ihm wieder zu Bewusstsein, dass auch sie eine Hexe war – eine von den guten, natürlich.

Tissum nahm den Beutel entgegen und schloss konzentriert die Augen.

Unterdessen reichte ihm Tarsa das dritte Glas Tee, und stellte eines für ihre Urgroßmutter auf das Tablett zwischen ihnen.

Um sich von der Spannung abzulenken, mit der er Tissums Meinung erwartete, nippte Raschid an seinem Tee – mild wie der Tod. Der Tee schlug Wellen in seinen vor Nervosität bebenden Händen. Hastig stellte er das Glas ab, umklammerte den Griff seiner Takuba und zwang sich, ruhig ein- und auszuatmen. Endlich öffnete Tissum die Augen wieder und gab ihm den Beutel zurück. Wärme floss in sein Herz, als er ihn in den Händen hielt. Unmöglich, dass von dort etwas Böses ausgehen könnte…

Sorgsam befestigte er den Beutel wieder an seiner Schärpe, und richtete all seine Aufmerksamkeit auf Tissum. Erst als er erleichtert aufatmete, wurde ihm bewusst, dass er den Atem angehalten hatte, bis er sie sagen hörte: 

"Ich kann keinen Schadens- oder Beeinflussungszauber darin erkennen, noch überhaupt irgendeinen Zauber. Es ist ein ganz gewöhnlicher Beutel, mit Sorgfalt und Liebe gefertigt, ja, aber nicht magisch."

"Dann habe ich also recht." seufzte Raschid befreit auf. "Mariemma ist keine böse Hexe, und meine Familie braucht sich nicht vor ihr zu fürchten. Nur, wie überzeuge ich sie davon? Wenn ich ihnen sage, dass du…" Doch die weise Frau unterbrach ihn streng.

"Du erwartest von mir, deinen Leuten zu sagen, dass dein Mädchen harmlos ist, und denkst, damit würde dann alles gut? War es von Anfang an dein Plan, dass ich eine Art Machtwort zu deinen Gunsten spreche?"

Raschid zuckte unter ihren harschen Worten zusammen wie unter einem Peitschenhieb, doch ehe er etwas zu seiner Verteidigung sagen konnte, fuhr sie fort, wobei sie die erwähnten Gründe an ihren Fingern abzählte:

"Da muss ich dich leider enttäuschen, denn erstens mische ich mich nicht in Familienangelegenheiten anderer Leute ein, zweitens ist mein Einfluss bei weitem nicht so groß, wie du zu glauben scheinst, und drittens lässt sich Vertrauen nicht erzwingen. Abgesehen davon, dass deine Leute – wie du ja vorhin zutreffend bemerkt hast – nie zugeben würden, dass sie dein Mädchen als Bedrohung betrachten. Sie würden ihr Gesicht verlieren, wenn sie es täten, und wenn du das zu erzwingen versuchst, würdest du damit alles nur noch schlimmer machen. Du würdest Unfrieden in deine Familie bringen, und ihr Misstrauen gegen dein Mädchen und ihre Leute eher noch verstärken."

Mit jedem ihrer Worte wurde es Raschid schwerer ums Herz.

"Aber wir müssen doch irgendwas tun können, um unsere Familien zu überzeugen!" rief er verzweifelt aus. "Wenn wir sie wenigstens dazu bringen könnten, dass ich weiterhin meinen Verpflichtungen in meiner Familie nachkommen kann, anstatt ein Ened zu werden, wenn ich bei Mariemmas Familie lebe! Mein Bruder lebt schließlich auch bei der Familie seiner Frau, und gehört trotzdem immer noch zu unserer."

 Nun ja, Manwa war seine Cousine, wie es üblich war, und Kenan hatte sie inzwischen verlassen, aber das tat ja hier nichts zur Sache.

„Das eben ist der Grund“ sagte Tissum langsam und nippte an ihrem Tee, ehe sie fortfuhr:

„weshalb die meisten Familien darauf bestehen, dass Cousins und Cousinen heiraten. Man gehört zur selben Familie, kennt einander und die Aufgaben bleiben die gleichen wie vorher. So ist das auch bei deinem Bruder, nehme ich an? Du verstehst, wo der Unterschied ist zu dem, was du anstrebst, ja?“

"Du willst also sagen, dass es keine Möglichkeit gibt, die Einwilligung unserer Familien zu erreichen?“ Enttäuschung schwang in Raschids Stimme mit und schlug in Trotz um, als er sagte:

„Dann gehe ich fort mit ihr. Irgendwo hin, wo uns niemand kennt." Demonstrativ legte er eine Hand auf den Griff seiner Takuba.

"Ich bin ein Krieger, ich kann überall Aufträge als Wächter bekommen. In Chetra, in Nedschef oder noch weiter im Norden…"

Etwas in ihrem Blick irritierte ihn, so dass er mitten im Satz abbrach. Tissum jedoch widmete sich nun betont gelassen ihrem Tee, trank seelenruhig das Glass leer und stellte es dann auf das Tablett zurück, während Raschid vor mühsam beherrschter Ungeduld bebte.  

"Hast du eine Vorstellung davon, was das für dein Mädchen bedeuten würde?" wandte sie ein.

"Willst du ihr zumuten, allein unter Fremden zu leben, fernab von ihrer Familie, bei der sie aufgewachsen ist, wo sie niemanden kennt außer dir? Eine Frau braucht ihre Familie um sich herum, all ihre Imarhan[10], um glücklich zu sein. Wie lange könnte ihre Liebe zu dir sie darüber hinwegtrösten, bis das Heimweh nach ihrer Familie überhandnimmt, und sie sich dorthin zurücksehnt? Spätestens dann würde sie dich sowieso verlassen, selbst wenn sie bei ihrer Familie demütig um Verzeihung bitten müsste, damit sie dort wieder aufgenommen wird. Und sie würde deine Kinder mitnehmen, die dann bei ihrer Familie aufwachsen würden und Inaden werden müssten. Und wenn du nicht den Rest deines Lebens allein in der Fremde verbringen willst, dann müsstest du bei deiner Familie das Gleiche tun. Denkst du nicht, dass es klüger wäre, sich der Entscheidung deiner Familie zu beugen, als es so weit kommen zu lassen?“

Raschid schluckte trocken. Er hatte so große Hoffnungen in dieses Gespräch gesetzt, und die Wende, die es gerade nahm, wollte ihm ganz und gar nicht gefallen. Es musste einen anderen Weg geben. Einen, auf dem er und Mariemma zusammen glücklich werden konnten.

„Aber sie ist mein Leitstern.“ wandte er verzweifelt ein.

„Es ist ihr Bild, das ich in meinem Herzen trage. Und wenn ich auf Reisen bin, weist es mir den Weg nach Hause. Zu ihr. So muss Liebe sein, das habe ich schon immer geahnt, danach habe ich mein Leben lang gesucht, und nun, da ich diese Liebe gefunden habe soll ich sie aufgeben? Das kann nicht Ormuts Wille sein!“

Er musst mühsam an sich halten, um nicht aufzustehen und herumzugehen. Stattdessen nahm er das Teeglas wieder vom Tablett, und trank einen weiteren Schluck.

Ein verächtliches Schnauben kam von Tissum, die ihn unter zusammengezogenen Augenbrauen hervor tadelnd musterte.

„Dein ganzes Leben lang? Du mit deinen kaum 20 Lebensjahren sprichst von einem ganzen Leben? Dein so genanntes ganzes Leben hat noch nicht einmal richtig angefangen, Alyad[11]! Du wirst dich noch oft verlieben, und ebenso oft enttäuscht werden, bis du erkennst, dass nichts im Leben vollkommen ist. Wie viele Paare kennst du, die schon ihr ganzes Leben lang zusammen glücklich sind?“

„Tudert und Malik!“ platzte Raschid heraus. „Meine Schwester Tudert und mein Cousin Malik waren schon als Kinder ineinander verliebt, und das sind sie noch immer. Ich bin sicher, auch er trägt auf Reisen ihr Bild in seinem Herzen, und es weist ihm den Weg nach Hause. Deshalb konnte er damals nach dem Sandsturm die Karawane nach Hause führen, als mein Vater eine Augenentzündung bekam, und nichts mehr sehen konnte. Es waren Ormuts Wille und Maliks Liebe zu meiner Schwester, die uns alle gerettet haben!“

Nun, da er es aussprach erkannte er erst, dass dies wirklich seine Überzeugung war.

"Ich bin nicht sicher, ob jede Liebe von Ormut geplant und gesegnet ist,“ fuhr er dann langsam und nachdenklich fort und umfasste das Teeglas mit beiden Händen „aber die von Tudert und Malik ist es sicherlich, und die von mir und Mariemma ist es auch!“

Die weise Tamrart musterte ihn aufmerksam. „Daran glaubst du?“ fragte sie verblüfft.

Raschid nickte ernst. „Ja,“ sagte er mit andächtiger Gewissheit „daran glaube ich.“

Tissums Miene nahm einen mitfühlenden Ausdruck an.

„Du glaubst, dass Ormut einen Plan für dich hat? Dass sie dich und dieses Mädchen zusammengebracht hat, und dass es ihr Wille ist, dass ihr Zusammensein sollt?“

Wieder nickte Raschid. Endlich schien Tissum verstanden zu haben. Und wie sollte sie auch nicht? Wo doch alles so klar und einfach war, nun da es ihm selbst endlich bewusst geworden war. Vielleicht würde nun doch noch alles gut.

„Und was lässt dich glauben, du wüsstest mehr über Ormuts Willen als ältere, weisere Leute es tun?“ Ihr Tonfall war nun eindeutig herablassend, und Raschids Hoffnung brach jäh zusammen. „Mein Herz sagt mir das.“ Erwiderte er, doch seine Stimme klang bei weitem nicht mehr so überzeugt wie zuvor. Er hielt sich an seinem Teeglas fest

„Oh ihr jungen Leute und eure ach so unfehlbaren Herzen." seufzte die Tamrart spöttisch und trank einen Schluck von ihrem Tee.

"Du glaubst ja nicht, wie oft ich Ähnliches zu hören bekomme von jungen Männern, die Rat bei mir suchen, und doch eigentlich nur meine Zustimmung für etwas wollen, wovon sie ohnehin schon überzeugt sind. Und weißt du, was ich jedem von ihnen antworte? Ich rate ihnen, auf ihre Eltern und Großeltern zu hören, die weitaus besser beurteilen können, welche Folgen eine Tat haben kann. Und dann murmeln sie etwas von dem Unverständnis der Alten, und dass es bei ihnen etwas völlig anderes ist. Jeder von euch scheint zu glauben, vor euch selbst hätte niemand auf der ganzen Welt ähnliches schon erlebt, und wir Alten seien niemals jung und verliebt gewesen. Aber ihr irrt euch. Auch wir waren einmal so jung, und ja, auch so verliebt und so töricht wir ihr Jungen es heute seid. Doch dann wurden wir älter, wir sammelten Erfahrungen, wir erlitten Enttäuschungen, und wuchsen daran. Jeder von uns Alten hat eine lange Geschichte zu erzählen, junger Raschid. Und du tätest gut daran, dir diese Geschichten mit Respekt anzuhören, und daraus zu lernen. Denn letztendlich haben wir immer das Wohl der ganzen Familie im Blick, und daraus resultieren unsere Entscheidungen. Deshalb sind es die Mütter und Großmütter, die für die Familie die Entscheidungen treffen. Weil die jungen Männer zu ungestüm sind, und nicht über die Folgen ihrer Taten nachdenken. Und weil sie glauben, die Stimme ihres Herzens sei unfehlbar, was aber eigentlich nur bedeutet, dass ihr Wille stärker als ihr Verstand ist. Wenn du also meinen Rat willst, junger Raschid, dann rate ich dir, dich der Entscheidung deiner Familie zu beugen, und dasselbe rate ich auch deinem Mädchen.“

Aus! Düsternis legte sich über Raschids Herz. Die letzte Hoffnung auf Beistand war vergebens gewesen, denn auch Tissum verstand sein Anliegen nicht. Stattdessen hatte sie ihn gemaßregelt, wie einen dummen Jungen. Unter Aufbietung aller Selbstbeherrschung, zu der er noch fähig war, versagte er es sich, aufzuspringen, und ihr genau die Worte entgegenzuschleudern, die sie angeblich schon so oft von anderen Ratsuchenden gehört hatte. Das noch halbvolle Teeglas schepperte auf dem Tablett und etwas von dem Tee schwappte über, als seine zur Faust geballte Hand es ungelenk darauf abstellte, doch immerhin brachte er es noch fertig, würdevoll aufzustehen und sich höflich zu verbeugen, bevor er sich abwandte, seine Sandalen wieder anzog, und langsam davonging, ohne noch ein weiteres Wort zu sagen. Immerhin hatte ihm Tissum einen Einblick in die Gedankenwelt seiner Großmutter gegeben, aber das würde ihm nicht helfen sie umzustimmen. Nun hing es an Idrissas Verhandlungsgeschick, sonst wäre alles verloren. Sein Herz brannte, als er daran dachte, Mariemma vielleicht aufgeben zu müssen.


 
1]Tamrart = alte Frau, weise Frau

[2]Schesch = Tuch aus dem Schleier und Turban gewickelt werden

[3]Takuba = Schwert der Asad-Krieger

[4]Enschahid = ich bitte um Entschuldigung (sorry)

[5]Ahal = Festveranstaltung der Asad, bei dem sich unverheiratete Leute treffen. Die Männer wetteifern um die Gunst der Frauen, und dürfen sich danach diskret verabreden. Wenn zwei Gefallen aneinander finden ist alles möglich…

[6]Inaden = Handwerker, Schmiede   

[7]Ened = Handwerker, Schmied

[8]Aberu = schlechtes Schwert                                                 

[9]Iklan = Sklaven

[10]Imarhan = Diejenigen, die uns etwas bedeuten, alle die wir lieben

[11]Alyad = Junge

 


 

.... Viele Jahre später ....

RASCHIDs Heimkehr

 

Auf die Frage aus der Gruppe, ob sie nun den von RASCHID erwähnten Schmied aufsuchen werden, antwortet RASCHID:

„Nein, natürlich nicht. Zuerst suchen wir einen anderen Schmied auf, und besorgen uns angemessenere Kleidung. Ich kann doch nicht in meinen staubigen Reisekleidern bei meiner Familie erscheinen.“

Dann erklärt er ihnen, dass der Schmiedeclan, dem der Meisterschmied Amazzahl Ag Elyas angehört, locker zum Clansverband seiner Familie gehört, ohne jedoch mit ihnen verwand zu sein und sich daher meistens in der Nähe der Kel Aschak aufhält – RASCHIDs Clan. Deshalb werden sie dann auch zwangsläufig RASCHIDs Familie besuchen.

RASCHID bringt sie also zu einem Schmied, bei dem er sich Festtagskleidung besorgt, und einen Teil des unterwegs erworbenen Goldes in Silber umtauscht. Außerdem besorgt er noch Geschenke für seine Familie. Seinen Reisegefährten empfiehlt er, sich ebenso zu kleiden wie er, samt Verhüllung der Gesichter. Er wird dann seiner Familie erklären, dass auf Reisen auch die Frauen Männerkleidung tragen. Dann bereitet er Tee zu und bringt ihnen bei, wie sie Tee trinken können, ohne den Schleier abzunehmen.

WEI LAN gegenüber deutet er so diplomatisch wie möglich an, dass seine Familie ein derartig fremdartiges Aussehen bei Menschen nicht gewöhnt ist, worauf WEI LAN eine Augenbraue hebt und grinsend fragt:

„Welche Menschen sind das schon? Mir selbst ist ja dieses Aussehen noch fremd!“

Sie überlegt eine Weile und fragt dann:

„Ich hatte in meinem Laden einen Kopfschmuck von einer Wüstenbewohnerin. Da verdeckten Perlenfransen die Augen. Sollte ich vielleicht so etwas tragen, damit man auch die Augenpartie nicht sehen kann? Oder wäre das zu viel des Guten? Würden deine Familienmitglieder dann erst recht misstrauisch werden?“

RASCHID schüttelt den Kopf. „Das wäre wohl zu viel. Es ist ohnehin unschicklich, einem Fremden direkt ins Gesicht zu sehen. Die Tracht meines Volkes wird genügen.“

Bei der Gelegenheit fragt KORF RASCHID, ob seine Familie allen etwas anders Gekleideten oder gar anders aussehenden Personen gegenüber so voreingenommen ist und RASCHIDs eher aufgeklärtere Sichtweise der Dinge, der wahre Grund seiner jahrelangen Abwesenheit von zuhause ist.

RASCHID sieht KORF etwas verständnislos an

„Nein, warum sollten sie? Sie haben doch auch Kontakte mit den Himjar und den Schariden, die ebenfalls andere Sitten haben als wir.“ 

dann überlegt er eine Weile und erklärt schließlich:

„Es macht einen guten Eindruck, wenn Gäste sich an die Sitten der Gastgeber anpassen. Es wird natürlich nicht verlangt, weil die meisten Fremden unsere Sitten nicht kennen. Ihr aber seid meine Freunde, und es wäre seltsam, wenn ich sie euch nicht erklärt hätte. Wenn ihr sie nicht befolgen wollt, wird euch niemand dafür tadeln. Es fällt bestenfalls auf mich zurück.“

WEI LAN kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Du hast Angst, dass wir dich blamieren!“, stellt sie trocken fest. „Na, bei dem Einen oder Anderen besteht wahrscheinlich Grund dazu…!“

 RASCHID zieht seinen Schleier ein Stück höher, blickt ausweichend in sein Teeglas, nimmt einen Schluck und erklärt wie nebenbei: „wir sind schließlich keine gewöhnlichen Kel Ulli – das Ziegenhirten, die uns gegenüber tributpflichtig sind. Wir sind Asad, und das ist so etwas Ähnliches wie Wladyk in Moravod.“ Dann wendet er sich an WEI LAN:

„Wie wir alle wissen, gibt es Echsenwesen in der Wüste, und auch bei meinem Volk gibt es Gerüchte darüber...“

„Ach, du meinst mich…“, knurrt WEI LAN.

 „Was so tief in der Wüste lebt, wo keine Menschen mehr überleben können – nicht einmal wir Asad - wird mit Misstrauen betrachtet!“, fährt er fort, wobei er sich den dezenten Hinweis auf die außergewöhnlichen Überlebensfähigkeiten seines Volkes nicht verkneifen kann.

„Es wäre darum besser, wenn dich niemand mit einem solchen Wesen verwechseln könnte. Wenn wir uns alle so verhalten wie ich es euch empfohlen habe, sind wir einfach Gäste mit guten Manieren, weiter nichts.“ 

Auf KORFs Frage nach dem Grund seiner langen Abwesenheit geht er nicht ein. 

 

Nachdem sich alle neu eingekleidet haben, machen sie sich auf zum Lager der Kel Aschak, deren Aufenthaltsort RASCHID von dem Schmied erfahren hat. Unterwegs empfiehlt RASCHID seinen Reisegefährten, sich so lange still im Hintergrund zu halten, bis er sie seiner Familie vorstellt.

Als das Lager in Sichtweite kommt, bringt RASCHID seine Kleidung sorgfältig in Ordnung und zieht seinen Schleier hoch bis dicht unter die Augen. Den Gefährten rät er, es ihm gleichzutun.

Kaum sind alle damit fertig, kommt ihnen ein einzelner Asad entgegen, der ebenfalls seinen Schleier bis dicht unter die Augen gezogen hat. RASCHID gleitet elegant von seinem Kamel und bedeutet den Gefährten, ebenfalls abzusteigen. Dann geht er dem Asad gemessen Schrittes entgegen, wobei er sein Kamel am Zügel führt. Beide unterhalten sich eine Weile in einer den Gefährten unbekannten Sprache, und schließlich reichen sie einander kurz und flüchtig die Hände. Dann wendet sich RASCHID an die Gefährten, und sagt auf Scharidisch:

„Das ist mein Cousin Malik Ag Amestan - Malik, dies sind meine Freunde und Reisegefährten WEI LAN, KORF und HALLDOR.“

Malik reicht allen kurz die Hand, und sagt dann auf Scharidisch zu RASCHID:

„die Familie wartet vor Großmutters Zelt auf dich.“ dann wendet er sich an die Gefährten:

„das ist eine Familienangelegenheit, aber da ihr RASCHIDS Freunde seid, könnt ihr am Rand warten, bis Großmutter Euch zu sich einlädt.“ Dann geht er voran zum Lager und RASCHID folgt ihm.

Das Lager besteht aus mehreren Zelten verschiedener Größe, die aus gefärbtem Leder gefertigt sind. Zwischen den Zelten spielen Kinder und werden von Teenagern beaufsichtigt.

RASCHID wirft die Zügel seines Kamels einem Jungen zu, der sie geschickt auffängt und winkt weitere Kinder herbei, die den Gefährten die Zügel ihrer Kamele abnehmen. Dann schreitet er – jeder Zoll ein heimgekehrter Prinz – auf einen freien Platz im Schatten des größten Zeltes zu, der halbkreisförmig mit Decken ausgelegt ist. Darauf sitzen Asad -Männer und -Frauen aufmerksam abwartend auf dem Boden und auch Malik setzt sich wieder zu ihnen. Alle tragen wallende Gewänder in verschiedenen Blautönen, sowie schwarz oder weiß, außerdem Unmengen von Silberschmuck, besonders die Frauen. Auffallend ist, dass alle Männer mindestens eine Stoffbahn ihres Turbans vor das Gesicht gezogen haben, so dass nur die Augen zu sehen sind. Die Frauen hingegen haben nur leichte Tücher über dem Kopf, die ihre Gesichter nicht verdecken.

In der Mitte sitzt eine alte Frau auf einem Hocker und blickt der Gruppe mit majestätischer Gelassenheit entgegen, wie eine Fürstin, die Hof hält. Ihr schneeweißes Haar ist zu mehreren kleinen Zöpfen geflochten, die nur zum Teil von einem leichten dunkelblauen Tuch verdeckt werden. Ihr runzeliges Gesicht blickt ihnen hoheitsvoll entgegen.

RASCHID tritt respektvoll vor sie hin und verbeugt sich leicht. Die Geste erinnert an einen Offizier, der seiner Königin Bericht erstattet. Die Alte mustert ihn kritisch, spricht dann - so leise, dass seine Gefährten es nicht hören können – auf ihn ein. Die Miene der Alten sieht aber eher nach einer Strafpredigt als nach Wiedersehensfreude aus. RASCHID senkt den Kopf wie ein getadelter Junge und murmelt einige Worte, die die Gefährten nicht zu verstehen brauchen, um sie als etwas in der Art von „sorry, kommt nicht wieder vor“ zu interpretieren. Die versammelten Asad wenden taktvoll die Blicke ab und verziehen keine Miene. Es herrscht gespannte Stille.

Die Miene der Alten wird ob RASCHIDs Zerknirschung etwas milder. Sie sagt etwas in versöhnlichem Tonfall und winkt ihn näher zu sich heran. RASCHID beugt sich weiter vor, und sie legt ihre Hände in einer Art Segen auf seinen Kopf und sagt auf Scharidisch, laut genug, dass es alle hören können: 

„Willkommen zu Hause, jüngster Sohn meiner jüngsten Tochter, Ormuts Segen über dich.“

Als sie ihre Hände zurückzieht, richtet sich RASCHID wieder auf. Obwohl er den Gefährten den Rücken zudreht, drückt seine Haltung erleichtertes Aufatmen aus und er wirkt einige Zentimeter größer als vorher.

An ihm vorbeiblickend sagt die Alte:

„Wie ich sehe, hast du Gäste mitgebracht.“ und wendet sich an die Gruppe:

„tretet näher, Fremde. Ormuts Segen über Euch. Mein Heim ist Euer Heim“ und winkt die Gefährten zu sich heran. „Willst Du uns deine Freunde nicht vorstellen, RASCHID?“

Als sie vor ihr stehen, stellt RASCHID sie vor, laut genug, dass alle es hören können:

„Das sind meine Freunde und Gefährten:

WEI LAN, Händlerin aus dem fernen Land Kan Tai Pan;

KORF Tokjevitsch - das bedeutet KORF Ag Tok, Bogenschütze aus der Stadt Geltin im fernen Land Moravod;

HALLDOR McCoy, Heiler aus dem fernen Land Alba.

Und dies, meine Freunde, ist meine Großmutter Tlaten Ult Azerwal, Kaida - das bedeutet Clansoberhaupt - der Kel Ashak“

Dann stellt er den Gefährten seine Familie vor, wobei er jeden einzelnen ebenfalls respektvoll, aber etwas weniger förmlich begrüßt, angefangen bei seiner Mutter. Auch vor ihr verbeugt er sich, und sie legt die Hände auf seinen Kopf.

„Dies sind meine Mutter Garmiya Ult Kherem Und mein Vater Areschar Ag Liam

Meine Tante Anane Ult Ayrad, die ältere Schwester meiner Mutter und ihr Ehemann Chenani Ag Hiram

Mein Onkel Amezwar Ag Tahay, der ältere Bruder meiner Mutter

Meine ältere Schwester Tudert Ult Amenay, und ihren Ehemann Malik Ag Amestan, kennt ihr ja schon, mein Cousin, der älteste Sohn meiner Tante Anane.

Mein älterer Bruder Kenan Ag Amenay und seine Frau Tariwelt Ult Azrur

Meine ältere Schwester Tilila Ult Areschar.“ Der neben Tilila sitzende Mann streckt RASCHID die Hand zum Gruß hin. „ich bin Amalu Ag Ghali. Tilila und ich sind seit drei Jahren verheiratet. Freut mich, dich kennenzulernen, Schwager.“ Hilft er RASCHID aus der Verlegenheit.

Als die Vorstellungsrunde beendet ist, bietet RASCHIDs Großmutter den Gefährten Tee an, der von einem dunkelhäutigen jungen Mädchen gebracht wird. Mit einer Geste fordert sie RASCHID auf, den Tee zu verteilen. Mit eleganten Bewegungen gießt RASCHID den Tee in die Gläser und verteilt sie mit den feierlich vorgetragenen en Worten:

„der erste Aufguss, bitter wie das Leben.“

Zum Trinken zieht er seinen Schleier nicht beiseite, sondern hebt nur das untere Ende weit genug an, dass das Teeglas darunter passt. Die anwesenden Männer halten es ebenso.

Während die Gefährten ihren Tee trinken, gießt das Mädchen die Teeblätter ein zweites Mal auf, und fügt eine beachtliche Menge Zucker hinzu. Dann verteilt RASCHID den Tee mit den Worten: 

„der zweite Aufguss, süß wie die Liebe“

und schließlich noch einen dritten mit den Worten:

„der dritte Aufguss, mild wie der Tod“

„Worauf wir alle hoffen!“, murmelt WEI LAN leise.

Schließlich fordert seine Großmutter ihn und die Gefährten auf, von ihren Reisen zu erzählen.

WEI LAN hält es für klüger, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu ziehen, schweigt lieber und versucht, so unauffällig wie möglich auszusehen.

Da sich die Kameraden vorläufig zurückhalten, beginnt RASCHID:

„In Moravod, dem Land, aus dem wir gerade gekommen sind, wohnen die Menschen das ganze Leben lang am selben Ort in festen Häusern. Dort sind alle Ackerbauern zugleich auch Viehzüchter, und reine Hirten gibt es kaum. Das ist auch kein Problem, weil von Frühling bis Herbst das Gras überall so schnell nachwächst, dass ein Hirte für all seine Tiere nur zwei Weiden benötigt. Wenn die eine abgeweidet ist, kommen die Tiere auf die andere, während die erste nachwächst. Daneben ist also jede Menge Zeit für Ackerbau. Es regnet so häufig, dass die Menschen sich eher nach Sonnenschein sehnen, als nach Regen und die Flüsse führen das ganze Jahr über Wasser. Viele sind so groß, dass man mit schwimmenden Häusern aus Holz auf ihnen reisen kann. Außerdem gibt es überall fruchtbaren Boden, auf dem Getreide und Gemüse wachsen. Die Sorge der dortigen Bauern gilt nicht einem Mangel, sondern eher einem Übermaß an Regen, denn zu viel Regen lässt das Getreide und Gemüse auf den Feldern verfaulen.

Nur im Winter ändert sich alles. Dann fällt der Regen als gefrorenes weißes Pulver vom Himmel, das die Menschen dort SCHNEE nennen. Bereits kurz nach Einbruch des Winters bedeckt dieser SCHNEE das ganze Land wie Flugsand, und nichts kann darunter wachsen. Dann ist das ganze Land Tenere[1], und die Menschen verkriechen sich in ihren Häusern, und halten Tag und Nacht Feuer in Gang. Außerhalb der beheizten Häuser ist es auch am Tage so kalt, dass die Menschen sich in dicke Felle kleiden müssen, um nicht zu erfrieren. Auch die Tiere werden in Häusern untergebracht und mit getrocknetem Gras gefüttert, das während des Sommers gesammelt und eingelagert werden muss. Auch die Menschen müssen im Winter von ihren Vorräten zehren wie auf einer Durchquerung der Erg Achab. Erst wenn nach drei bis Fünf Monden im Frühjahr das Eis und der SCHNEE schmelzen und die Wiesen wieder grün werden, können die Tiere auf die Weiden zurück und sich draußen wieder selbst ihr Futter suchen.“

Alle Anwesenden, auch RASCHIDs Großmutter, hören aufmerksam zu, gehen aber nicht weiter darauf ein. Sie erzählen RASCHID noch einiges über die Familie, wer geheiratet hat, welche Kinder in seiner Abwesenheit geboren wurden, wer nicht mehr da (=gestorben) ist. 

„Zurzeit“ kommt RASCHID schließlich zum Grund seines Besuches „sind wir im Auftrag des Großfürsten von Moravod unterwegs, weil dem Land große Gefahren drohen. Wir können nicht über die Einzelheiten sprechen, denn die sind geheim. Es ist allerdings erforderlich, meine Takuba[2]zu verbessern, und ich kenne nur einen Experten, der dazu imstande ist. Deshalb müssen wir baldmöglichst Meister Amazzal aufsuchen. “

Bei der Nennung dieses Namens runzelt seine Großmutter die Stirn und murmelt in mahnendem Tonfall etwas in einer den Gefährten unbekannten Sprache. RASCHID senkt den Kopf und murmelt etwas auf Asadi, doch in seiner Stimme liegt dieses Mal ein winziger Hauch von Trotz.

 „Nun gut“, sagt sie schließlich auf Scharidisch „das Lager von Amazzals Familie befindet sich weniger als einen halben Tagesritt nördlich von hier. Wenn ihr morgen früh aufbrecht, solltet ihr genügend Zeit haben, alles zu klären. Dabei wirft sie RASCHID einen mahnenden Blick zu, der aber dieses Mal keine Reaktion erkennen lässt.

Schließlich zieht sie sich in ihr Zelt zurück, und lässt RASCHID und die Gefährten mit der übrigen Familie allein. Die Stimmung ist nun weniger förmlich, wenn auch die Älteren immer noch von den Jüngeren mit Respekt behandelt werden. Von all seinen anwesenden Verwandten scheint RASCHID der jüngste zu sein. RASCHIDs Mutter steht auf, winkt RASCHID, ihr zu folgen, und geht ein Stück von der Gruppe weg. Als sie mehr oder weniger außer Sichtweite sind, umarmt sie ihn, drückt ihn immer wieder an ihr Herz, und sagt leise Worte in mütterlichem Tonfall auf Asadi. Sein Vater, seine Schwestern und sein Bruder gesellen sich dazu und umarmen ihn ebenfalls, aber nicht ganz so überschwänglich. Malik, der sitzen geblieben ist, schüttelt leicht missbilligend den Kopf.

Auf die leicht amüsierten Blicke der Gefährten hin murmelt Malik, ohne dass es wie eine Antwort auf eine Frage klingt: „Wie soll er jemals erwachsen werden, wenn seine Mutter ihn immer noch mein kleiner Junge nennt?“

 Nach einer Weile kommen alle zurück, und auch weitere Asad, sowie die Kinder und Teenager begrüßen RASCHID wie den lange verschollenen Verwandten, der er ja auch ist. RASCHID stellt auch sie seinen Gefährten vor, dann setzt er sich wieder und verteilt Geschenke. Alle bestürmen ihn und die Gefährten nun mit Fragen; die Älteren förmlicher, die Jüngeren eher neugierig. Natürlich fragen sie RASCHID, ob er eine Familie hat, was er verneint. Die Jüngeren sind erstaunt, dass er immer noch keine Frau und keine Kinder hat, die Älteren mustern ihn besorgt, sagen aber nichts dazu.

Einzig seine älteste Schwester nimmt ihn beiseite, und redet kurz mit ihm. Falls die Gefährten ihn beobachten, sehen sie Erleichterung und Dankbarkeit in seinem Blick, als seine Schwester ihm die Hände auf den Kopf legt und ihn segnet.

Es geht allerdings niemand auf das 4-Augen-Gespräch mit seiner Großmutter ein, und auch die Gefährten haben das Gefühl, dass es keine gute Idee wäre, ihn jetzt danach zu fragen. 

Später erzählt RASCHID für die neu dazugekommenen noch einmal von Moravod.

Die Kinder und Jugendlichen hören mit großen staunenden Augen zu, die Älteren hingegen blicken RASCHID skeptisch an.

„Ist in diesem Land Moravod dann jeder ein Abarad[3], der im Winter eine längere Reise überlebt hat, und bekommt ein Azerrid n Erslerna dafür[4]?“ fragt einer der jüngeren Männer beeindruckt und berührt wie beiläufig das silberne Amulett, das mit einem schwarzen Band an seinem Turban befestigt ist. Dabei blickt er von RASCHID zu dessen Gefährten und wieder zurück. RASCHID berührt das silberne Amulett an seinem eigenen Turban, das ebenfalls mit einem schwarzen Band befestigt ist.

„In Moravod“ erklärt er dann „gibt es zwei Arten zu reisen, Azigul. Die der Reichen, die auf Pferden reiten, oder in Pelze gehüllt auf gepolsterten Schlitten fahren und jede Nacht in einem Gasthaus verbringen; für die ist es keine große Anstrengung. Und es gibt die der Armen, die zu Fuß gehen, und im Freien übernachten müssen. Von denen unternimmt niemand freiwillig im Winter längere Reisen. Einen, der es doch tun muss, und es überlebt, kann man durchaus als Abarat, als Überlebenden bezeichnen, aber Trophäen gibt es dafür nicht. Es gehört ja nicht, wie bei uns, zu ihrer Kultur, sich bewusst dieser Art von Gefahr auszusetzen und es zu überleben. Ich sehe, auch du trägst das Azerrid n Erslerna, das Band derer, die ihre Schwäche besiegt haben. Wann hast du es erhalten?“

„Eine interessante Geschichte,Barar-i[5].“ Bemerkt RASCHIDs Vater trocken, bevor Azigul antworten kann. „Hast du sie dir selbst ausgedacht, oder ist das ein bekanntes Märchen in diesem Land Moravod?“

Viele der älteren Asad lachen, auch Malik und RASCHIDs älterer Bruder Kenan. Der jüngere Azigul blickt beschämt zu Boden, wie jemand, dem es peinlich ist, eine erfundene Geschichte für wahr gehalten zu haben. Auf RASCHIDs Frage geht er nicht mehr ein.

Als die Gefährten den Asad bestätigen wollen, dass alles wahr ist, was RASCHID erzählt hat, winkt dieser ab. „Lasst es gut sein, Freunde.“ sagt er vermittelnd. „Für jene die noch nie die Heimat verlassen haben ist es schwer vorstellbar wie groß die Welt wirklich ist. Ich selbst hätte es damals auch nicht geglaubt, als ich es noch nicht mit eigenen Augen gesehen hatte. Ebenso wenig, wie die Menschen in Moravod sich vorstellen konnten, wie mühsam die Menschen in meiner Heimat der Wüste das lebenswichtige Wasser abringen müssen.“

Bei der Bemerkung über die Mühsal der Wasserbeschaffung nicken einige Asad bestätigend. Eine Gruppe junger Leute tuschelt auf Asadi, bis schließlich ein Jüngling, dessen Haare zu einem Dutzend blonder Zöpfe geflochten sind, und dessen Gesicht noch unverhüllt ist, das Wort ergreift.

„Ist die Welt wirklich so groß wie du sagst, RASCHID?“ fragt er neugierig.

„Ich bin sicher sie ist noch größer, Tariq.“ erwidert RASCHID bedachtsam. „Und ich habe noch längst nicht alles gesehen.“

„Dann wirst du wieder fortgehen? Weil du noch nicht alles von der Welt gesehen hast?“ fragt Tariq.

RASCHID schüttelt den Kopf. „Das ist nicht der Grund, aber ich bin in Moravod Verpflichtungen eingegangen und werde dorthin zurückkehren. Wir bleiben nur bis morgen früh hier.“

Tariq blickt RASCHID nachdenklich an. „Willst du denn kein Kel Aschak mehr sein?“ fragt er schließlich bestürzt. Stolz richtet RASCHID sich auf.

„Ich werde immer ein Kel Aschak sein.“ sagt er feierlich und fügt noch hinzu: „Das ist mir schon nach kurzer Zeit in der Fremde klargeworden.“

„Dann“ sagt seine Mutter ebenso feierlich „solltest du dies hier vielleicht wieder tragen.“

Sie nimmt einen kleinen ledernen Gegenstand aus einem Beutel, der um ihren Hals hängt und reicht ihn weiter an RASCHIDs Vater, der ihn weiterreicht, bis er schließlich bei Tariq ankommt, der aufsteht und ihn RASCHID überreicht. RASCHID nimmt den Gegenstand entgegen und betrachtet ihn andächtig.

„Mein Stammesabzeichen. Ihr habt es all die Jahre aufbewahrt?“ murmelt er gerührt und befestigt es an einer seiner Schärpen. Dann steht er auf und verbeugte sich leicht in Richtung seiner Eltern. 

„Es wird mir eine Ehre sein, es wieder zu tragen.“ sagt er feierlich.

Es wird noch eine Weile geplaudert, die Älteren ziehen sich nach und nach zurück, auch RASCHIDs Eltern, Tante und Onkel. Die Mütter sammeln die kleineren Kinder ein, Tudert schickt ihre Kinder unter der Obhut ihrer ältesten Tochter in ihr Zelt zum Schlafen und schließlich sagt Azigul:

„Du hast das nicht erfunden, RASCHID, oder? Es ist alles wahr, der SCHNEE, und der viele Regen und all das?“ RASCHID nickt, sagt aber nichts dazu.

„Ich wünschte, ich könnte auch die Welt bereisen, so wie du es tust.“ Seufzt der junge Tariq.

„Nicht ganz allein, wie du damals, aber wenn ich mit dir…“ er bricht ab, als ihm Tudert und Malik mahnende Blicke zuwerfen. „Immerhin frag ich ja…“ grummelt er noch leise vor sich hin, verkneift sich dann aber doch weitere Worte.

 

Für die Nacht wird den Gefährten ein Gästezelt zur Verfügung gestellt. Später am Abend sind die Gefährten vor ihrem Gästezelt versammelt und haben nun Gelegenheit, über das Erlebte zu reden. Dorthin wird ihnen auch das Abendessen gebracht: gebratenes Ziegenfleisch, Hirsegrütze und eine Art kräftig gewürzter Eintopf aus Zwiebeln, Tomaten und anderen exotischen Gemüsesorten. Dazu gibt es Fladenbrot und Kekse aus Hirsemehl, Datteln und Ziegenkäse.

WEI LAN richtet es so ein, dass sie an einer Stelle im Kreis sitzt, wo sie in Richtung Zeltöffnung schaut, so dass der Stamm beim Essen ihr Gesicht nicht sehen kann. Das ist auch kein großes Problem, weil um den Bereich vor dem Zelt herum Bastmatten aufgestellt sind, die nur im Stehen überblickt werden können.

RASCHID erklärt den Gefährten, dass es unschicklich ist, wenn Männer und Frauen gemeinsam essen. Für die Gruppe gelte das nur deswegen nicht, weil sie Fremdländer und zudem Gäste seien. Er selbst zieht zwar zum Essen seinen Schleier beiseite, doch er achtet darauf, dass WEI LAN sein Gesicht nicht sieht. Auf Nachfragen erklärt er, ein Mindestmaß an Schicklichkeit müsse schließlich gewahrt werden.

Anschließend bespricht er mit WEI LAN, wie er zur Not ihr seltsames Aussehen erklären kann, denn die Schmiede, zu denen sie am nächsten Tag reisen werden, sind nicht so diskret wie seine Leute, und ein etwas interessierterer Blick ins Gesicht ist bei ihnen durchaus möglich.

„Hmmm…“, setzt WEI LAN noch einmal an. „Könnte jetzt eventuell der Kopfschmuck hilfreich sein? Oder soll ich vielleicht lieber hierbleiben und ein Unwohlsein vortäuschen? Seekrankheit vom Kamelritt vielleicht?“

„Die Inaden“ sagt RASCHID langsam zu WEI LAN „sind anders als meine Leute, die sich von allem magischen oder geisterhaften fernhalten. Viele von ihnen können zaubern. Ich habe euch doch gesagt, dass die Inaden - wie Handwerker hier genannt werden - dem gleichkommen, was ihr Thaumaturgen nennt. Deshalb kann man mit ihnen über Dinge reden, denen meine Leute mit Misstrauen begegnen. Wir müssen uns nur auf eine gute Geschichte einigen, die der Wahrheit so nahe wie möglich kommt.“

WEI LAN erklärt RASCHID daraufhin, dass Drachen übermächtige, intelligente, magisch begabte und den Menschen wohlwollende Echsenwesen sind, die in Kan Tai Pan als eine Art Halbgötter verehrt werden, weil sie die Menschen beschützen. Was sie selbst mit Drachen zu tun hat, ist ihr selbst noch nicht ganz klar, aber die Aussage des KiDokas ging ja klar in diese Richtung.

RASCHID nickt verstehend und erklärt, dass dies bei den Inaden als Erklärung ausreichen müsste, sie könne also ruhig mitkommen. Es wäre ohnehin schwierig für sie, wenn allein sie hier bei seinen Leuten bleiben würde, denn dann würden sich die Frauen ihrer annehmen, und da Frauen ihre Gesichter nicht verhüllen, würden sie nicht verstehen, dass WEI LAN darauf bestehen würde, dies weiterhin zu tun. Dazu käme das Verständigungsproblem, weil sie ja kein Scharidisch kann, und andere Sprachen beherrscht hier niemand.

Als KORF RASCHID nach der Gardinenpredigt von seiner Großmutter fragt, und nach dem Gespräch mit seiner Schwester, antwortet er nur:

„Das werdet ihr noch früh genug erfahren.“

 

Am nächsten Morgen bringt das dunkelhäutige Mädchen, das am vergangenen Tag den Tee gekocht hatte, den Gefährten Hirsebrei mit Datteln und Milch zum Frühstück und kocht Tee für sie.

Nach dem Frühstück brechen sie dann auf zum Lager der Inaden.

Schon auf dem Weg ist RASCHID eine ungewohnte Nervosität anzumerken, die er nur schlecht verbergen kann. Noch bevor die Sonne ihren Höchststand erreicht hat, kommt das Lager in Sichtweite.

Auch hier sind Zelte aus gefärbtem Leder verteilt, aber sie sind kleiner als die von RASCHIDs Familie und es sind auch deutlich weniger. RASCHID steigt von seinem Kamel und richtet sorgfältig seine Kleider, wobei er wieder den Schleier bis dicht unter die Augen zieht, bevor er langsam, das Kamel am Zügel führend auf das Lager zugeht. Auf halber Strecke kommt der Schmied der Gruppe gemessenen Schrittes entgegen. Er ist ein kräftiger Mann mittleren Alters, der RASCHID mit einer Mischung aus Freundschaft, Ehrerbietung und Zurückhaltung begrüßt. RASCHIDs Haltung ist die eines jungen Lords, der mit einem älteren, geschätzten Experten spricht, der zwar ein alter Freund aus Kindertagen, aber eben kein Lord ist. Sie tauschen Begrüßungsfloskeln aus, die sich eine Weile hinziehen und reichen sich dann die Hände.

Schließlich stellt ihm RASCHID seine Gefährten vor. Als er den Schmied vorstellt liegen freundschaftliche Wärme und Anerkennung für einen Meister seines Faches in seiner Stimme.

„Dies ist Amazzahl Ag Elyas, Meister der Inaden-Schmiedekunst und der Beste seines Handwerkes, soweit ich weiß“. Gemeinsam gehen sie zum Lager der Schmiede und führen ihre Kamele am Zügel. Auch hier kommen Kinder herbeigelaufen und nehmen den Gefährten die Zügel der Kamele ab. Der Schmied führt RASCHID und die Gefährten zu einer freien Fläche vor seinem Zelt, die als Werkstatt hergerichtet ist und fordert sie mit einer Geste auf sich zu setzen. Dort übergibt RASCHID dem Schmied seine Takuba, sowie eine stattliche Menge an Silbermünzen und erklärt, was für Verbesserungen er benötigt. Für die Zeit, in der seine eigene Takuba bei Meister Amazzal verbleibt, leiht sich RASCHID eine Ersatz-Takuba bei ihm aus. Auch ihm erzählt RASCHID vom Auftrag des Großfürsten. Schließlich aber fällt den Gefährten auf, dass RASCHID mit den Gedanken anderswo zu sein scheint und sich unauffällig umblickt. Auch der Schmied bemerkt es, und er sagt, mit einem schalkhaften Funkeln in den Augen:

„Nun geh schon zu ihnen, sie warten hinter dem Zelt auf dich. Ihr habt sicher viel zu besprechen.“

Wobei das Wort „besprechen“ von einem mahnenden Blick begleitet wird.

 „IDRISSA ist inzwischen ein ganz brauchbarer Schmied geworden.“ fährt er dann fort

„Warst lange weg, Junge.“

RASCHID verabschiedet sich einen Hauch eiliger, als es die Höflichkeit gestattet von Amazzal und wendet sich an seine Gefährten.

„Kommt,“ sagt er mit warmer Stimme „ich möchte Euch alte Freunde vorstellen.“ Zuvor aber richtet er noch seine Kleider, bringt seine Amulette in dekorative Positionen und zieht den Schleier ein kleines Stück tiefer als bei Meister Amazzal. Dann geht er in würdevoller Haltung vor den Gefährten her hinter das Zelt, wo ein junger Mann und eine junge Frau neugierig um die Ecke lugen, die ungefähr in RASCHIDs Alter sind. Die Frau trägt ein dunkelblaues Gewand, das mit Ornamenten bestickt ist und Lederschnüre um den Hals, an denen unzählige silberne Kettenanhänger baumeln. Ihr Kopf ist nur von einem locker sitzenden Tuch bedeckt, das ihr niedliches herzförmiges Gesicht freilässt. Ihr dunkelbraunes Haar ist zu vielen kleinen Zöpfen geflochten und mit kleinen silbernen Anhängern geschmückt. Mit einem warmherzigen Lächeln, das Gletscher schmelzen könnte, blickt sie der Gruppe entgegen. Als es ihr bewusst wird, senkt sie verschämt den Blick und zieht einen Zipfel ihres Kopftuches vors Gesicht, so dass nur noch ihre strahlenden, von dunkler Schminke und langen Wimpern umrandeten bernsteinfarbenen Augen zu sehen sind.

Obwohl sie ihn nur von hinten sehen, haben die Gefährten den Eindruck, dass RASCHID trocken schluckt, und sich mühsam zusammenreißt.

Der Mann trägt ein dunkelblaues Gewand, einen ebensolchen Turban mit dem üblichen Schleier, der bei ihm allerdings etwas lockerer sitzt als bei RASCHID, so dass die Hälfte der Nase und die ebenfalls bernsteinfarbenen Augen daraus hervorblicken. Mit willkommen heißend ausgebreiteten Armen kommt er RASCHID entgegen, während die Frau abwartend stehen bleibt.

„Das meine Freunde“ sagt RASCHID mit leuchtenden Augen an die Gefährten gewandt „sind meine besten Freunde aus Kindertagen. IDRISSA Ag Samil und seine Schwester MARIEMMA Ult Samil. Sohn und Tochter von Chadna Ult Adon, der jüngeren Schwester von Amazzals Frau Minata.“

„Und dies, Imidiwen, sind meine Freunde und Reisegefährten“ wendet er sich dann an die beiden Einheimischen und stellt ihnen die Gefährten vor.

Dann begrüßen IDRISSA und RASCHID sich wie lange vermisst Brüder, während MARIEMMA, die bei RASCHIDs Worten leicht zusammengezuckt war, sie unter ihrem Kopftuch hervor verstohlen beobachtet. Bei aller Wiedersehensfreude der alten Freunde liegt dennoch eine Spannung in der Luft, die fast greifbar ist.

Nach einer Weile gibt sich MARIEMMA einen Ruck, kommt zögernd näher und tastet unauffällig hinter IDRISSAs Rücken nach RASCHIDs Hand. Ihr warmherziges Lächeln ist einem fragenden Blick gewichen. RASCHID zuckt zusammen und wirbelt zu ihr herum, als sie seine Hand berührt und kurz sehen die Gefährten brennende Sehnsucht in seinen Augen, als er sie ansieht. Dann schließt er die Augen und atmet tief durch. Als er sie wieder öffnet, ist sein Blick freundschaftlich und er hat sich wieder unter Kontrolle.

„Hallo MARIEMMA“ sagt er bemüht kameradschaftlich, doch mit heiserer Stimme. „Wie geht es dir?“

„Alle sind gesund“ antwortet MAREIMA um einen beiläufigen Tonfall bemüht, der jedoch gekünstelt klingt. Gleichzeitig hält sie seine Hand fest, dreht die Handfläche nach oben und malt mit einem Finger der anderen Hand Zeichen in seine Handfläche. RASCHID verharrt bewegungslos, als würde er andächtig einer Nachricht lauschen, die nur er verstehen kann, doch die Falten seiner Gewänder rascheln und die Amulette um seinen Hals klimpern leise. Als ihr Finger zu malen aufhört, holt er tief und zitternd Luft: „Mariemma“ flüstert er mit bebender Stimme, und dieses eine Wort drückt so viel Gefühl aus, wie die Gefährten noch nie bei ihm gesehen oder gehört haben. Dann malt er Zeichen in ihre Hand und MARIEMMA schließt konzentriert die Augen, seufzt dann leise und lächelt verträumt.

In diese Stimmung hinein platzt IDRISSAs Stimme.

„Es tut gut, dich wiederzusehen, RASCHID, aber warum bist du zurückgekommen? Jetzt fängt alles wieder von vorne an.“

Schlagartig ist der Bann gebrochen. MARIEMMA lässt RASCHIDs Hand los und RASCHID tritt einen Schritt zurück und zieht seinen geringfügig verrutschten Schleier wieder hoch.

"Hast du deinen Freunden eigentlich erzählt, warum ihr damals nicht heiraten durftet?" fragtIdrissaRASCHID.

RASCHID wendet sich an die Gefährten:

 „Mariemma ist eine Ened, eine Handwerkerin und ich bin ein Asad. Asad heiraten keine Inaden!“

„und Inaden heiraten keine Asad“ fügt MARIEMMA ebenso stolz, aber mit einem Hauch von Wehmut in der Stimme hinzu.

„Mit anderen Worten“ dolmetscht IDRISSA „unsere Mütter - und natürlich RASCHIDs Großmutter - haben es verboten. Wir haben alles versucht, um sie umzustimmen, aber es war vergeblich. MARIEMMA hat sich nächtelang in den Schlaf geweint und …“

„Setzen wir uns doch irgendwo“ unterbricht ihn RASCHID. „Dein Onkel hat ja schon angedeutet, wir würden einiges zu besprechen haben.“

 „wir können zu meinem Zelt gehen“ schlägt MARIEMMA gastfreundlich vor „ich koche uns Tee.“

Auf dem Weg zu MARIEMMAs Zelt geht RASCHID neben ihr her. Sie streckt ihre Hand nach seiner aus, lässt sie aber wieder fallen, ohne ihn zu berühren. Kurz treffen sich ihre Blicke, dann seufzt MARIEMMA kaum hörbar und RASCHID ringt um Fassung.

MARIEMMAs Zelt ist viel kleiner als das von RASCHIDs Großmutter, gerade groß genug für sie und ihre wenigen Habseligkeiten. Es passen nicht alle hinein, aber immerhin können sie davor im Schatten sitzen, und sind durch die darum herum stehenden Palmblattmatten vor dem Wind und auch vor neugierigen Blicken geschützt. IDRISSA facht vor dem Zelt ein Feuer an, um das sich die Gefährten nun versammeln, und MARIEMMA werkelt in der Küchenecke mit dem Teegeschirr. RASCHID setzt sich ans Feuer, legt seinen Speer griffbereit neben sich, wie er es immer tut und starrt dann versonnen in die auflodernden Flammen, während seine Gefährten über das soeben erfahrene tuscheln. Als sie ihn nach MARIEMMA fragen, murmelt er nur abwesend auf Moravisch: „Später. Erst trinken wir Tee.“

 MARIEMMA kommt mit dem Tee zurück, stellt das Tablett mit den Teegläsern vor sich hin und den Teekessel in die Glut des Feuers. Außerdem reicht sie einen Teller mit Keksen aus Hirsemehl, Datteln und Ziegenkäse herum, die die Gefährten schon aus dem Lager von RASCHIDs Familie kennen. Dann setzt sie sich, gerade weit genug von RASCHID entfernt, um ein Mindestmaß an Schicklichkeit zu wahren, ans Feuer. Zwischen beiden scheint die Luft zu knistern, doch sie sehen einander nicht an. RASCHID blickt weiter in die Flammen, und MARIEMMA beobachtet die Teekanne. Idrissa knabbert an einem Keks, ohne seine Schleier beiseitezuziehen.

Als der Tee kocht, verteilt MARIEMMA ihn mit elegantem Schwung in die Gläser auf dem Tablett. Sie reicht jedem der Gefährten ein Glas, dann IDRISSA, und schließlich RASCHID. Der Tee in RASCHIDs Glas schlägt Wellen, als sich ihre Hände kurz berühren.

„Bitter wie das Leben“ murmelt er, als der flüchtige Moment vorbei ist und sein Blick verweilt an der Stelle, wo MARIEMMA seine Hand berührt hat.

Zum Trinken zieht er den Schleier nicht beiseite, und auch IDRISSA behält seinen auf. 

Nachdem MARIEMMA ihr Glas leer getrunken hat, bereitet sie mit weichen, fließenden Bewegungen den zweiten Aufguss zu. Wieder verteilt sie die gefüllten Gläser.

„süß wie die Liebe“

sagt sie leise, als sie RASCHID mit bebenden Fingern sein Glas reicht und dabei tapfer den Blick dezent auf das Teeglas gerichtet hält. Der Tee in RASCHID Glas schwappt fast über, als er es entgegennimmt und sich ihre Hände dabei leicht berühren. Sein Blick huscht verstohlen zu ihrer Hand und dann treffen sich ihre Blicke über dem Teeglas und versinken ineinander.

IDRISSA wendet taktvoll den Blick ab, aber es liegt keine Missbilligung darin, sondern eher freundschaftliches Verständnis und Mitgefühl.

Da MARIEMMA den Tee vergessen zu haben scheint, sammelt IDRISSA die Teegläser ein, brüht den dritten Aufguss auf, und verteilt die Gläser an die Gefährten.

„Mild wie der Tod“ sagt er mit Grabesstimme, reicht RASCHID und MARIEMMA neue Gläser und bricht damit den Bann.

Beide trinken hastig ihren zweiten Aufguss aus, und nehmen dann ihre Gläser von IDRISSA entgegen.

„Hör zum Amidi[6]“ sagt dieser ernst zu RASCHID. „ich sehe nichts, ich höre nichts und ich sage nichts, genau wie damals. Aber willst du nicht vielleicht deinen Gefährten die ganze Geschichte erzählen? RASCHID wirft einen nachdenklichen Blick in die Runde, und sieht überall gespanntes Interesse.

 „Ja“, sagt er dann langsam. „Ich denke, das können wir tun. Sie sind meine Freunde, und verdienen es, die ganze Wahrheit zu erfahren.“

MARIEMMA sieht RASCHID fragend an.

„Imidiwen[7]?“ fragt sie unsicher. RASCHID nickt. „Imidiwen!“ sagt er bestimmt und MARIEMMA nickt verstehend.

 

 „Wir waren schon als Kinder befreundet, RASCHID, IDRISSA und ich, als wir alle noch in den öden Hügeln lebten. Aber dann wurden wir älter, und RASCHID konnte uns nicht mehr besuchen, weil er bei seiner Familie Männeraufgaben übernehmen musste, während die Männer die Dschebel-Al-Ghussat eroberten, und mit der Salzkarawane unterwegs waren.

IDRISSA lernte inzwischen bei Onkel Amazzal das Schmiedehandwerk, und ich lernte Lederbearbeitung, Nähen und Töpfern bei unserer Mutter. Später zogen dann die Kel Aschak in ihr neues Revier und das ist ein viel zu weiter Weg, um alte Freunde zu besuchen.“ erzählt MARIEMMA leise. Sie hält sich an ihrem Teeglas fest, ihr Blick starrt ins Leere und ihre Stimme scheint von weit her zu kommen, so als spräche sie zu sich selbst. 

„Alles begann am Abend des ersten Frühlingsvollmondes, an dem überall das große Frühlingsfest gefeiert wird.

In diesem Winter waren wir hierher übersiedelt, und haben deshalb die Kel Aschak zu unserem Fest eingeladen, deren Karawane am Tag zuvor von einer langen Reise zurückgekehrt war.

Ich war vorher schon auf einigen Festen gewesen, und RASCHID auch, aber wir waren uns bisher auf keinem begegnet. Meine Freundin Kherima hatte mir erzählt, dass sie für RASCHID und seine unwiderstehlichen blauen Augen schwärmte, aber ich verstand nicht, wieso. Er war doch nur ein alter Freund aus Kindertagen. Ich hatte sein Gesicht gesehen, als wir barfuß im Hemdchen und mit unbedeckten Köpfen zusammen gespielt hatten. Wir hatten einander die Haare geflochten wie Geschwister es tun.“ MARIEMMA nimmt einen Schluck aus ihrem Teeglas, und fährt dann fort:

„IDRISSA uns ich hatten uns darauf gefreut, unseren alten Freund wiederzusehen, aber er kam nicht mit den anderen Kel Aschak zum Festessen. Kherima war zutiefst enttäuscht, doch mir schlug IDRISSA vor, dass wir ihn denn eben am folgenden Tag im Lager der Kel Aschak besuchen könnten.

Als es dämmerte, begann dann das Ahal."

Als HALLDOR fragt, was ein Ahal ist, erklärt RASCHID, dass es so ähnlich ist, wie wenn bei den Dorffesten in Moravod die jungen Leute zusammen tanzen. Nur, dass bei Ahals die Unverheirateten unter sich sind, und jeder sich mit Geschicklichkeits- und Kampf-Spielen hervorzutun versucht, um die anwesenden Frauen zu beeindrucken. Es werden Gedichte vorgetragen, Geschichten erzählt und Rätselspiele veranstaltet und meistens geht es dabei um Liebe, gelegentlich auch um Heldentaten. Er erklärt auch, dass man sich danach diskret verabreden kann, und dann alles möglich ist. Was auch der Grund dafür ist, dass er dergleichen für völlig normal hält. Er wirft einen kurzen Blick zu MARIEMMA hinüber.

"Möchtest du weitererzählen?" MARIEMMA nickt, und fährt fort:

"Wir Frauen schlugen die Trommel, und die Männer ritten Parade auf ihren Kamelen. Plötzlich stupste Kherima mich an, und zeigte auf einen der Reiter: Das ist er raunte sie mir schwärmerisch zu. Das ist RASCHID. Verblüfft folgte ich der Richtung, in die sie zeigte und erkannte die Takuba, die an seinem Gürtel hing, denn die hatte Onkel Amazzal mit IDRISSAs Hilfe für RASCHID geschmiedet und ich hatte an der ledernen Scheide mitgewirkt. Doch was ich sah, war nicht mehr unser alter Freund aus Kindertagen, sondern ein beeindruckender junger Krieger der stolz die Festtagstracht erwachsener Männer und das Azerrid n Erslerna trug und plötzlich verstand ich, wieso Kherima für ihn schwärmte.

"An dieser Stelle zupft WEI LAN HALLDOR entnervt am Ärmel. „Was is’n das nun schon wieder“, knurrt sie leise „allmählich komme ich überhaupt nicht mehr mit. Erst diese vielen schwierigen Namen der Personen und nun auch noch das. Hilfe! Übersetz‘ doch bitte ´mal!“

"Das" sagt HALLDOR bedächtig "kenne ich auch nicht. Ich glaube, es ist kein scharidisches Wort."

"Seht Ihr das schwarze Band mit dem silbernen Amulett an RASCHIDs Turban?" wendet sich MARIEMMA an die Gefährten." Das ist das Azerrid nErslerna. Es ist ein Abzeichen, dass ein Mann erhält, wenn er zum ersten Mal auf einer lebensgefährlichen Reise große Strapazen überstanden hat. Bei den Asad heißt es, dass ein Mann erst dann wirklich ein Mann ist. RASCHID hat uns später an diesem Abend von dieser Reise erzählt. Aber zuerst tat er all diese Dinge, die junge Männer eben tun, um junge Frauen zu beeindrucken und ich konnte den Blick nicht von ihm lassen. Irgendwann wurde mir bewusst, dass ich ihn genauso schwärmerisch anstarrte wie Kherima, über die ich mich vorher noch lustig gemacht hatte. Ich bemühte mich also, auch anderswo hinzusehen, aber mein Blick kehrte immer wieder zu ihm zurück.

Am Ende des Abends erzählte er dann von der Salzkarawane, von der seine Leute gerade erst am vergangenen Tag zurückgekommen waren.

Sie hatten mitten in der Erg Achab drei Tage und Nächte in einem Sandsturm festgesessen, mindestens 5 Tagesmärsche vom nächsten Brunnen entfernt. Drei Tage, an denen Wasser, Proviant und Kamelfutter verbraucht wurden, aber kein Weg zurückgelegt werden konnte. RASCHIDs Vater, der die Karawane leitete, hatte entzündete Augen, und konnte nichts mehr sehen, so dass sein Cousin Malik die Karawane mit reduzierten Vorräten an Wasser, Proviant und Kamelfutter nach Hause führen musste.

Alle mussten hart darum kämpfen, den Weg bis zum nächsten Brunnen schaffen, bevor Menschen oder Kamele vor Erschöpfung zusammenbrechen. Es hatten alle überlebt, und danach bekam RASCHID das Azerid n Erslerna.

Wir Kel Tahore unternehmen solche Reisen nicht, und die Kel Ulli, die ja nur Ziegenhirten sind, ebenfalls nicht. Aber wir hatten natürlich schon davon gehört. Die Salzkarawane der Kel Aschak ist immer ein großes Ereignis, selbst wenn alles nach Plan verläuft.

Während er sprach, blickte RASCHID ins Leere und sprach mit unbeteiligter Stimme, als hätte jemand anderes das alles erlebt. Und er stellte Malik als den Helden der Geschichte dar, weil es das erste Mal war, dass Malik die Leitung einer Karawane übernommen hatte. Doch man konnte heraushören, wieviel Mühe und Anstrengung es auch ihn selbst gekostet hatte, es lebend bis zum nächsten Brunnen zu schaffen; wie erschöpft er immer noch war.

Wie alle anderen lauschte ich mit angehaltenem Atem, als RASCHID die Geschichte erzählte, und wusste nicht, ob ich ihn in die Arme nehmen und trösten wollte, wie es eine Schwester tun würde. Oder ob ich ebenso wie Kherima für den jungen Krieger schwärmte, der er inzwischen geworden war. Dann sah er mich an, mit diesen blauen Augen und es war, als berührte sein Blick etwas tief in meinem Herzen, auf eine Weise wie mich vorher noch nie jemand berührt hatte."

 RASCHID senkt den Blick, zieht seinen Schleier ein Stück höher und starrt gedankenverloren in das langsam verglimmende Feuer. Während Idrissa etwas Holz nachlegt, damit das Feuer nicht ausgeht, trinkt er einen Schluck aus seinem Teeglas und umfasst es dann sacht mit beiden Händen, als wollte er es beschützen. Auch seine Stimme scheint aus weiter Ferne zu kommen, als er seine Version erzählt.

„Ich wusste, dass IDRISSA und MARIEMMA auf dem Fest sein würden, und freute mich darauf meine beiden ältesten und besten Freunde wiederzusehen. Die Gelegenheit für Gespräche hatte ich leider verpasst, denn als ich ankam, hatte das Ahal schon begonnen. Da es nicht mein erstes Ahal war, wusste ich, worauf es ankam, und das erforderte volle Konzentration. Es galt schließlich, die Ehre der Asad gegen die anwesenden Inaden und Kel Ulli zu verteidigen, und seit mein Bruder Kenan verheiratet war, fiel diese Aufgabe mir zu. Und das hieß, dass ich bei allem nicht weniger als mein absolut Bestes geben musste.

Erst später hatte ich Gelegenheit mich umzusehen und als ich MARIEMMA schließlich erkannte, blieb mein Blick bewundernd an ihr hängen. Ich konnte nur staunen, welch schöne Frau aus dem dürren Mädchen, an das ich mich erinnerte, geworden war, da erwiderte sie meinen Blick, und lächelte. Sie hatte mich noch niemals vorher so angesehen. Genau gesagt hatte mich noch nie zuvor ein Mädchen so angesehen. Mit so einem Lächeln, als ginge mitten in einer kalten dunklen Nacht, wenn man völlig durchgefroren ist, plötzlich die Sonne auf und überstrahle alles mit ihrer Wärme, bis man alle Kälte vergessen hat. Übrigens, diese Kherima, die MARIEMMA erwähnt hatte, ist mir überhaupt nicht aufgefallen, denn wenn die Sonne aufgeht, verblassen daneben der Mond und die Sterne. Alles Weitere verlief dann wie in einem Traum, auf den ich keinen Einfluss mehr hatte, weil all meine Vernunft verdunstet war, in der Wärme von Mariemmas Lächeln …“ seine Stimme verliert sich in Erinnerungen.

Er blickt verstohlen zu MARIEMMA hinüber, doch die hat scheu den Blick gesenkt. RASCHID trinkt seinen Tee aus und stellt das leere Glas vor sich in den Sand. Entspannt zieht er den Schleier ein Stück tiefer, dann fährt er sachlicher fort:

„Es war ein Ahal, wir waren jung, und es zählte nicht, was unsere Familien darüber denken. Was auf einem Ahal geschieht, geht die Familien nichts an, solange alles diskret abläuft. Sie mischen sich erst ein, wenn es ums Heiraten geht, aber so weit dachten wir an diesem Abend noch nicht. Ich war schon vorher auf Ahals gewesen, da verliebt man sich schnell, aber das meiste ist von kurzer Dauer. Es bleibt nur eine angenehme Erinnerung zurück, aber ansonsten ist alles wieder wie zuvor. So hätte es auch dieses Mal sein sollen. Wir wären wieder Freunde gewesen, und hätten eine besondere Erinnerung geteilt, mehr nicht...“

„Ich weiß ja nicht, was genau da so diskret abgelaufen ist“, raunt WEI LAN leise KORF zu der neben ihr sitzt „aber wenn es das war, was ich vermute, dass es war, hab‘ ich erhebliche Zweifel, dass am nächsten Morgen wieder einfach alles beim Alten sein könnte. Das ist doch einfach unrealistisch. Meinst Du nicht auch?

„Tja“, antwortet KORF ihr leise und fährt fort “ in der Vergangenheit hat er oft bewiesen, ein echter Charmeur zu sein und ich denke mir, bei dieser einen Sache hat er wohl eindeutig den Bogen überspannt…“ und nippt an seinem Tee. Versonnen schaut er nachdenklich und bemerkt fast unhörbar: “Wir alle haben etwas Geheimnisvolles in uns... mehr oder weniger.... Der eine läuft davon, der andere lernt, damit zu leben…. Es bleibt das schale Gefühl die anderen zu brüskieren…“

 „Aber so war es nicht.“ nimmt IDRISSA den Faden auf, nachdem KORF und WEI LAN ihre Unterhaltung beendet haben.

„MARIEMMA war am nächsten Morgen wie verwandelt, und das blieb auch an den folgenden Tagen so. Sie träumte mit offenen Augen, war unaufmerksam, und ständig müde, als bekäme sich nachts kein Auge zu. Als ich sie gefragt habe, was denn los sei, wich sie mir aus. Mir war schon klar, dass sie auf dem Ahal jemandem Imnai gegeben haben musste, aber es war ja nicht zum ersten Mal. Trotzdem musste irgendetwas anders gewesen sein als sonst.“

„Urglmnpf!“, macht WEI LAN, legt beide Hände auf ihr Gesicht und lässt sich erschöpft hintenüber in den Sand kippen.

„RASCHID, bitte sei nicht böse, aber ich gebe es gleich auf, der Unterhaltung folgen zu wollen!“, murmelt sie undeutlich hinter ihren Handflächen hervor.

„Zu viele fremde Worte auf einen Haufen. Was, bei allen Teeschalen, ist denn jetzt schon wieder, Imnai‘?“, grummelt sie schlechtgelaunt.

Dann richtet sie sich wieder auf und zupft ihre Gesichts-Verhüllung zurecht. „Wenn das hier nicht besser wird, geh‘ ich auf meinen Futon!“, brummt sie ganz leise wie zu sich selbst…

"Einen Moment, IDRISSA" unterbricht RASCHID, sieht sich zu WEI LAN um, und wendet sich dann wieder an IDRISSA. 

"Meine Reisegefährten verstehen unsere Sprache nicht, wir sollten uns auf Scharidisch beschränken". IDRISSA nickt verstehend.

"Aber für Imnai gibt es kein scharidisches Wort." wendet er ein. "Und wie soll man das auf Scharidisch erklären, wo doch Worte wie dieses der Grund dafür sind, dass die Schariden uns für sittenlos halten?"

MARIEMMA wirft einen koketten Blick zu RASCHID hinüber.

"Ich glaube, du musst es ihnen erklären." sagt sie mit einem unterdrückten Kichern in der Stimme. "Und sag ihnen auch, dass wir nicht sittenlos sind. Es ist ja nicht unser Fehler, dass die Schariden ihre Töchter einsperren und ihnen kein Vergnügen gönnen, damit sie sich demütig mit dem Ehemann abfinden, den die Familie ausgesucht hat. Und sei er auch grausam, hässlich oder alt."

RASCHID zieht seinen Schleier ein Stück höher, nimmt das leere Teeglas wieder aus dem Sand und dreht es zerstreut zwischen seinen schmalen kräftigen Händen.

„Eines vorweg. Ich habe beobachtet, dass ihr nicht über private Dinge sprecht, also habe ich es auch nicht getan. Aber wenn ihr so direkt fragt: Bei dem Wort ‘Imnai‘ geht es um etwas sehr privates."  sagt er dann bedächtig auf Moravisch, wobei sein Blick starr auf das Teeglas gerichtet ist.

"Ich kenne auch auf Moravisch kein Wort dafür, vielleicht gibt es keins. Ich hatte ja gesagt, dass bei Verabredungen nach Ahals, alles möglich ist. Aber, das braucht natürlich die Genehmigung der Frau. Das heißt dann Imnai." erklärt er schließlich zögernd.

"Das ist, der Grund für all diese Wettbewerbe, Gedichte, und Geschichten. Alles für Imnai von der Frau, in die man verliebt ist. Sie kann natürlich nein sagen, wenn er ihr nicht gefällt, das muss er dann respektieren. Aber wenn er ihr gefällt, dann darf sie ja sagen, und häufig tut sie das auch. Manchmal dauert es nur bis nächsten Morgen, und danach ist dann alles wieder wie vorher. Aber manchmal bleiben beide so lange zusammen, bis sie später heiraten. Bei uns muss eine Frau nicht allein bleiben, bis sie heiratet. Wir sind ja keine Himjar oder Schariden."

„RASCHID, du alter Schwerenöter,“ wirft KORF ein; „du hast dich unsterblich verliebt und das ist bei uns so etwas von keine Schande…, ich finde es sogar gut, dass du den Mut gehabt hattest, die Traditionen in Frage zu stellen., sagt mal: was ist denn in eurem Tee?“ Versucht KORF die Situation zu retten, weil ihm was ´rausgerutscht ist. Offenbar hat er das Gespräch in gefährliche Fahrwasser geführt.

"Unsterblich…ja…" sagt RASCHID leise auf Scharidisch, und in dem bemüht unauffälligen Blick, mit dem er zu MARIEMMA hinübersieht, liegt ebenso viel Wärme, wie in dem Lächeln, mit dem MARIEMMA seinen Blick erwidert, bevor sie schüchtern ihr Kopftuch vors Gesicht zieht.

"In diesem Tee ist nichts Besonderes" fährt RASCHID, nun auf Moravisch fort. "Er besteht nur aus grünem Tee, der, glaube ich aus deiner Heimat stammt, WEI LAN und aus Minze, die hier überall in den Oasen wächst. Und ich glaube, du missverstehst mich. Ich war nie ein Gegner von Traditionen. Ein einzelner Mensch ist ein Blatt im Wind, und wie ihr in Moravod in jedem Winter seht, kann ein Baum ohne Blätter überleben, ein Blatt ohne Baum aber nicht. Was überlebt, ist der Stamm, solange die Wurzeln gesund sind, und das sind die Traditionen.

Andererseits gibt Dinge, die stärker als Traditionen sind, und die es wert sind, dafür zu kämpfen.

RASCHID wirkt jetzt wieder etwas entspannter, zieht den Schleier ein Stück tiefer, stellt das Teeglas ab und blickt in die Runde.

„Aber wir hatten IDRISSA unterbrochen. Wollt Ihr die Geschichte weiter hören?“

„Ich war zwar auch auf dem Ahal gewesen“ fährt IDRISSA fort, und legt noch etwas Holz nach

„aber ich hatte natürlich nicht die ganze Zeit damit verbracht, meine eigene Schwester zu beobachten. Jedenfalls murmelte sie schließlich etwas davon, dass vorher noch keiner sie so angesehen hätte, so … so intensiv, bis tief ins Herz, und dass es RASCHID gewesen war. Irritiert fragte ich, ob sie etwa unseren RASCHID meinte. Sie nickte verlegen und ich muss zugeben, es gefiel mir nicht, denn ich hatte seit unserer Ankunft einiges über RASCHID gehört. Einige der Kel Ulli aus der Umgebung waren schon mit ihm zusammen auf Ahals gewesen, und hatten mir erzählt, dass sich immer Frauen fanden, die ihn anschwärmten. Die brauchte er nur anzusehen, um sie zu erobern und viele hatten ihm schon Imnai gegeben. Aber dass er das auch bei MARIEMMA versuchen würde, hatte ich nicht erwartet. Sie hatte nie auf diese Weise an ihn gedacht, und es waren ja andere dagewesen, zum Beispiel MARIEMMAs Freundin Kherima, die sich ihm geradezu an den Hals geworfen hätte. Versteht mich nicht falsch, unverheiratete Leute dürfen lieben wen sie wollen, und das gilt natürlich auch für MARIEMMA und für RASCHID. Er war ja nicht der erste dem sie sich nach einem Ahal Imnai gegeben hat und das war auch ihr gutes Recht.  Was mich ärgerte war, dass RASCHID, der genügend bewundernde Blicke von anderen Frauen bekam, sich ausgerechnet meine Schwester ausgesucht hat, um sie erst zu verführen, und dann nichts mehr von sich hören zu lassen. Das dachte ich damals jedenfalls.

Also ritt ich zum Lager der Kel Aschak, um ihn zur Rede zu stellen. …“ 

„Was er auch getan hat.“ nimmt RASCHID den Faden auf. „Er hatte nur nicht damit gerechnet, dass es mir ebenso ging wie MARIEMMA. Seit dem Morgen nach dem Ahal drehten sich all meine Gedanken darum, sie wiederzusehen, sie wieder so lächeln zu sehen, doch so einfach war das nicht. Malik und meine Schwester hatten mir nämlich schon am nächsten Morgen sehr deutlich klar gemacht, dass die Familie mir niemals erlauben würde eine Inaden-Frau zu heiraten. Und dass es sicher besser für uns beide wäre, wenn ich es beende, bevor MARIEMMA tiefere Gefühle für mich entwickelt. Ich musste mir eingestehen, dass sie Recht hatten, und so war ich, um unserer alten Freundschaft willen bereit, darauf zu verzichten. Es war wie ein Traum gewesen, und wenn ein Traum zu Ende ist, muss man eben aufwachen und sein bisheriges Leben weiterleben, dachte ich. Von frühester Kindheit an lernen wir Asad, dass das Leben hart ist, und dies gehörte dann eben dazu. Es schien mir damals das Härteste zu sein, was ich jemals hatte durchstehen müssen. Und gleichzeitig grübelte ich immer noch darüber nach, wie es überhaupt so weit hatte kommen können, wo wir doch einmal fast wie Geschwister gewesen waren.

Dann kamIdrissain unser Lager gestürmt und erhob übelste Vorwürfe gegen mich, wie ich mich erdreisten könnte, mit den Gefühlen seiner Schwester zu spielen. Und dass dies das Ende unserer Freundschaft sei, weil ich seine Schwester, die vorher nie in dieser Weise an mich gedacht hatte, nicht wie eine Trophäe nach einem gewonnenen Wettbewerb behandeln dürfe. MARIEMMA sei vollkommen durcheinander, weil ich irgendeinen Trick bei ihr angewendet hätte, der sie willenlos gemacht hätte. Ich versichere euch, dass ich es niemals nötig hatte, irgendwelche Tricks anzuwenden, und das sagte ich auch zu IDRISSA. Erst dann fiel mir auf, was er noch gesagt hatte. Nämlich, dass es MARIEMMA ebenso ergangen war wie mir. Und das hieß, dass ich nun nicht mehr allein darüber entscheiden konnte, wie es weitergehen sollte. Im Gegenteil, ich musste mit ihr reden, so bald wie möglich. IDRISSA war ziemlich verblüfft, als ich ihm meine Gründe erklärte. Vielleicht konnte er auch einfach nur nicht glauben, dass seine Schwester so eine Wirkung auf jemanden haben konnte. Ich konnte es ja selbst kaum glauben...“

Sein Blick sucht MARIEMMAs, doch die schaut scheu zu Boden, lächelt aber verträumt vor sich hin. Er gibt es auf, und wendet sich stattdessen an IDRISSA:

„Was unterstellst du mir eigentlich, für einen Ruf, Amidi? Ich war nicht anders als jeder andere, und dieses Lächeln war eine Einladung, die jeder angenommen hätte. Nein, mehr noch. Dafür wäre jeder vorher noch durchs Feuer gegangen, oder wohin auch immer sie ihn geschickt hätte. Abgesehen davon habe ich in dem Moment überhaupt nichts Derartiges gedacht. Ich habe nur gestaunt, wie schön MARIEMMA geworden ist, und dann lächelte sie. Von dem Moment an konnte ich überhaupt nichts mehr denken.“

Noch bevor IDRISSA antworten kann, fängt MARIEMMA RASCHIDs Blick ein und hält ihn fest.

„Das war nicht das übliche Imnai, RASCHID, es war einfach das, was ich in dem Moment gefühlt habe.“ Und leise, kaum hörbar fügt sie hinzu:“ was ich immer noch fühle.“ Dann schaut sie wieder verschämt zu Boden und zieht einen Zipfel ihres Kopftuches vors Gesicht. Auch RASCHID senkt verlegen den Blick und starrt in das nun etwas schwächer glimmende Feuer.

„Ich weiß“, sagt er leise, „mir hätte schon damals auffallen müssen, dass es mehr war als das, aber so erfahren war ich noch nicht. Seit meinen ersten Ahals hatte ich geglaubt zu wissen, was Liebe ist, und war immer noch damit beschäftigt, staunend zu entdecken, dass ich überhaupt nichts gewusst hatte.

Derweil ergreift IDRISSA das Wort: „Wir haben das damals alles bereinigt, ich denke ja garnicht mehr so über dich, Amidi. Ich musste doch nur erklären, warum ich dir damals solche Vorwürfe gemacht habe.“ Dann wendet sich Idrissa wieder an die Gefährten:

„RASCHIDs Erklärung hat mich ziemlich überrascht. Es war ja so ziemlich genau das Gegenteil von dem, was ich gedacht hatte. Nach einem Ahal gleich an Heirat zu denken, ist eher ungewöhnlich, und wir waren ja erst 17 Jahre alt, was bedeutet, wir hatten noch mindestens 2 Jahre Zeit, ehe unsere Familien das Thema Hochzeit überhaupt erwähnen würden. Ich weiß heute noch, was RASCHID damals zu mir gesagt hat: Sag ihr, ich lege mein Herz in ihre Hände, so wie nach dem Ahal. Wenn sie mich sehen will, soll sie kurz nach Sonnenuntergang dahin kommen, wo wir uns nach dem Ahal getroffen haben. Ich werde dort auf sie warten. Die ganze Nacht, wenn es sein muss! Da war etwas so Todernstes in seinem Blick und in seiner Stimme, dass ich mich nicht weigern konnte. Natürlich ist sie hingegangen. An diesem Abend, und an noch vielen weiteren Abenden. Bei Ahals hatten beide nur noch Augen füreinander, was MARIEMMA den Ruf einbrachte, die Frau die RASCHID gezähmt hat zu sein.“

Bei dieser Formulierung schnaubt RASCHID verächtlich, unterbricht IDRISSA aber nicht.

„Das ging über 2 Jahre lang so. Selbst wenn RASCHID längere Zeit auf Reisen war, und sie einander über Monate nicht sehen konnte, hat MARIEMMA keinem anderen Imnai gegeben, und RASCHID hatte auch keine anderen, soweit ich weiß.“

RASCHID nickt nur, tastet unauffällig nach MARIEMMAs Hand, und lässt seine dann dicht neben ihrer liegen, ohne sie jedoch zu berühren.

„Allmählich wurden unsere Familien ungeduldig.“ Fährt IDIRSSA fort „Wir alle wussten, dass eine Ehe zwischen Asad und Inaden unmöglich war, und RASCHID und MARIEMMA wussten das auch. Also wurden beide nachdrücklich ermahnt, sich angemessenere Ehepartner zu suchen. Und damit begann das Drama.

Zuerst hat RASCHID beschlossen, dass sie es zumindest versuchen sollen, und ich musste die ganze Zeit über zwischen beiden Familien vermitteln. Ich bin wirklich ein pfiffiges Kerlchen, aber ich hatte keine Chance gegen RASCHIDs Großmutter. Die Frau ist wie Granit. Mit unseren Eltern hat RASCHID selbst verhandelt, er hat seinen ganzen Charme und all seine guten Manieren eingesetzt, aber sie waren ebenso unnachgiebig. MARIEMMA hat sich jede Nacht in den Schlaf geweint, und ich bekam alles aus nächster Nähe mit. Sie ist ja meine Zwillingsschwester und wir stehen einander besonders naht, aber ich konnte ihr nicht helfen. Gleichzeitig hat unser Cousin Ayur angefragt, ob MARIEMMA ihn heiraten will, und unsere Familie war dafür. Zwar konnten sie MARIEMMA nicht zu einer ungewollten Ehe zwingen, aber es war ein weiterer Grund für sie, einer Ehe mit RASCHID nicht zuzustimmen.“

„Was ich gerne wissen würde“, wirft WEI LAN nachdenklich ein „welchen Sinn hat denn die Tradition, dass Asad und Inaden nicht heiraten dürfen? Es muss doch einen Grund geben. Ist es etwas Praktisches oder etwas Religiöses?“

"Beides, würde ich sagen," antwortet RASCHID bedächtig und blickt in die Runde.

"oder auch keines von Beidem. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Es beginnt schon damit, dass Inaden und Asad völlig verschiedene Aufgaben haben. Sie fertigen die Waffen an, und wir wissen sie zu gebrauchen. Schon kleine Kinder wachsen mit den Aufgaben ihrer Familien auf, und lernen sie von den Eltern und älteren Geschwistern. Wer mit der einen Aufgabe aufgewachsen ist, kann nicht einfach so die andere übernehmen. Lernt nicht auch in Moravod ein Kind das Handwerk seiner Eltern? Würde dort ein Wladyk seinen Sohn eine Handwerkertochter heiraten lassen? Oder würde der Sohn gar selbst ein Handwerker werden? Nach allem, was ich gesehen habe, eher nicht. Der Sohn würde ein Ritter werden, wie sein Vater, aber sicher kein Schmied oder Schuster. Und ebenso würde sich ein Schmied sicher keinen Wladyk zum Schwiegersohn wünschen, sondern einen Schmied, der das Handwerk bereits von seinem Vater gelernt hat. Das zumindest haben unsere Völker gemeinsam."

"Es war also klar, dass RASCHID kein Ened werden kann." nimmt MARIEMA den Faden auf.

"Also wollten wir unsere Familien dazu bringen, dass auch wenn wir verheiratet sind, trotzdem jeder seinen familiären Verpflichtungen nachkommen kann. Dafür hatten wir uns einen wirklich guten Plan überlegt. Da wir ja alle Nomaden sind, und häufiges Umziehen bei uns normal ist, könnten wir doch unser Zelt bei meiner Familie aufstellen, wenn RASCHID mit den Karawanen unterwegs ist, und wenn er zu Hause ist, dann stellen wir es bei seiner Familie auf, oder irgendwo zwischen beiden Lagern, die sowieso nie weit voneinander entfernt sind. Wir hielten das für eine gute Idee, aber unsere Familien nicht."

Ernst blickt sie die Gefährten der Reihe nach an, als würde sie nachträglich noch um Zustimmung für diesen vernünftigen Plan werben, während IDRISSA noch etwas Holz nachlegt. Der letzte Blick gilt RASCHID, und ein wehmütiges Lächeln überzieht kurz ihr Gesicht. RASCHID schiebt seine Hand unauffällig auf ihre zu, bis sich ihre Fingerspitzen berühren und wendet sich dann an die Gefährten:  

"Ich hatte damals sogar die weise Tissum in Chetra um Rat gefragt…"

"Davon hast du damals garnichts gesagt!" ruft MARIEMMA erstaunt dazwischen.

"Wozu auch?" erwidert RASCHID achselzuckend.

"Auch sie hat mir geraten, mich den Anordnungen unserer Familien zu fügen, also war es sinnlos, es zu erwähnen."

Seine Fingerspitzen streicheln unauffällig die ihren, ehe er sich wieder den Gefährten zuwendet.

"Was ich auch vorschlug, sie hatte immer vernünftige Gründe, die dagegensprachen bis ich letztendlich erkannte, dass der wahre Grund das tiefe Misstrauen der Asad gegen all jene ist, die mit Zauberei zu tun haben. Auch die Inaden zählen dazu, denn sie stellen ja magische Amulette her. Ich hatte all die Geschichten, mit denen ich aufgewachsen war, nicht mehr ernst genommen, weil ich schon so lange mit MARIEMMA und IDRISSA befreundet war. Aber für meine Leute waren das nicht nur Märchen, mit denen man kleine Kinder erschreckt, sondern eine ernstzunehmende Gefahr, die einen ganzen Stamm ins Unglück stürzen könnte. Man konnte nicht einmal mit ihnen darüber reden, weil sie nie offen zugegeben hätten, dass sie in einer Inaden-Schwiegertochter eine Bedrohung sahen. Sie konnten es nicht zugeben, ohne Schwäche zu zeigen, und dadurch das Gesicht zu verlieren. So wachsen wir auf. Wir zeigen keine Angst, keine Schwäche, kein Leid, keine Trauer, keine Ungeduld und keinen Zorn. Das ist Tekarakit, was man am Ehesten mit "Anstand" übersetzen könnte. Das Leben ist hart in der Wüste, und wer da bestehen will, muss härter als das Leben sein! Darauf werden bei uns schon kleine Kinder trainiert. Einem Sohn singt die Mutter Wiegenlieder, in denen sie ihn ihren kleinen Helden nennt, denn das ist es, was er werden soll.

Und Mädchen lernen, würdevolle Clansmütter zu sein, die alle Geheimnisse des Lebens kennen, die es wert sind, bewahrt zu werden und unsere Kultur in Liedern und Geschichten an die Kinder weitergeben. Starke Frauen, die, wenn die Männer auf Reisen sind, deren Aufgaben mit übernehmen. Die sanft zu den Kindern und zu ihren Männern sind, und doch die Härten des Lebens ohne Klagen ertragen können. So werden Kinder bei uns erzogen, bei den Inaden aber nicht, was ein weiterer Unterschied zwischen ihrer und unserer Lebensweise ist." Er sieht weder MARIEMMA noch die Gefährten an, als er das erzählt, sondern sein Blick ist versonnen in die Ferne gerichtet. In die Richtung, in der das Lager der Kel Aschak liegen müsste.

"Das war jetzt vielleicht ein bisschen übertrieben." mischt sich Idrissa ein und wirft einen verstohlenen Seitenblick auf RASCHID, der weiterhin versonnen in die Ferne blickt.

"Aber im Großen und Ganzen stimmt es schon. Die Kel Aschak – eigentlich alle Asad – legen viel mehr Wert auf das Tekarakit, das euch RASCHID gerade beschrieben hat, als wir Inaden. Bei uns sind andere Dinge wichtig. Vor allem natürlich das Handwerk, und dafür braucht man eher geschickte Hände als das ganze andere Zeug. Deshalb halten viele die Asad für hochmütig, aber von uns würde auch niemand so weit in die unbewohnbaren Bereiche der Wüste vordringen, wie sie es tun. Außerdem sind sie die Krieger, die uns alle gegen Angriffe verteidigen – was sie natürlich nicht ohne die von uns gefertigten Waffen können."

IDRISSAs Stimme wechselt je nach Thema zwischen sachlicher Erklärung, leichtem Spott und Stolz auf die eigenen Leistungen hin und her.

"Ihr seht also," fasst er dann zusammen, und blickt sich mit einem leicht spöttischen Ausdruck in den Augen in der Runde um, "wir sind hier alle wie eine große glückliche Familie, in der jeder seine Aufgaben hat. Alles passt bestens zusammen. Bis einer aus der Reihe tanzen will, dann gibt’s Schwierigkeiten."

Sein Schleier ist inzwischen bis weit unter die Nase gerutscht, doch das scheint ihn nicht zu kümmern.

Derweil streichelt MARIEMMA sanft RASCHIDs Fingerspitzen mit ihren, doch dieser lässt keinerlei Reaktion erkennen. Nur der Ausdruck in seinen Augen wird etwas weicher. Kurz huscht sein Blick zu ihr hinüber, bevor er ihn mit ernstem Ausdruck auf die Gefährten richtet.

"Kurz vor dem zweiten Sommervollmond teilte mir meine Familie dann mit, dass es keine Zustimmung geben würde. Wir hatten gekämpft und verloren." sagt er leise:

"Die Entscheidung war endgültig."

Die Trauer von damals spiegelt sich kurz in seinem Blick, doch RASCHID ringt das Anzeichen von Schwäche nieder und setzt eine gleichmütige Miene auf, ehe er fortfährt:

"Und wie wir ja eben ausführlich erklärt haben, kann man sich nicht einfach gegen die Familie stellen, und tun was man will. Hier ist jeder auf den anderen angewiesen, denn das Leben ist hart in der Wüste. Die Karawanen, die Kamelzucht die Verteidigung, unserer Familien, die Kriege, all das braucht eine Gemeinschaft, die zusammenhält. Deshalb kann es sich niemand leisten, sich mit seiner Familie zu überwerfen. Wir sind nichts ohne unsere Familien! Dennoch hätte ichMariemmabeinahe gefragt, ob sie mit mir fortgehen will, wenn wir hier nicht heiraten dürfen.“

Mariemmas Kopf ruckt zu RASCHID herum. Sie starrt ihn fassungslos an und umklammert seine Hand so fest, dass er zusammenzuckt. Er hat sich aber sofort wieder unter Kontrolle und versucht auch nicht, seine Hand aus der Umklammerung zu befreien.

„Beinahe? Du hättest mich beinahe gefragt??“ redet MARIEMMA sich in Rage, wobei sie weiterhin RASCHIDs Hand umklammert hält, und nichts davon bemerkt. 

„Und wieso hast du es dann doch nicht getan? Du hast nicht einmal erwähnt, dass du auch nur darüber nachgedacht hast. Stattdessen bist du einfach verschwunden, ohne dich zu verabschieden, und wir alle dachten, wir würden dich niemals wiedersehen! War dir denn nicht klar, dass ich, ohne zu zögern mit dir gekommen wäre?“

Ihre Stimme ist weder laut noch schrill, nur ernst, und vielleicht ein wenig enttäuscht, doch inRASCHIDs Augen flackert kurz ein gequälter Ausdruck auf, der schnell wieder verschwindet, als er sich mühsam zusammenreißt.

„Du meine Güte!“, seufzt WEI LAN. „Was für ein Drama. Das ist ja nicht zum Aushalten. Da möchte man ja die Maid einfach schnappen, sie unter den Arm klemmen und mit ihr davonrennen!“

"Es war mir klar." erwidert RASCHID leise, ohne sie anzusehen. "Und das habe ich auch zu Tissum gesagt, doch sie hat es mir ausgeredet."

"Wieso?" fragt MARIEMMA eindringlich, und ihr Blick scheint ihn durchbohren zu wollen. "Warum hast du auf eine alte Frau gehört, anstatt auf dein Herz?"

RASCHID schließt kurz die Augen und atmet tief durch.

"Wie hätte ich, ein Jüngling von kaum 20 Jahren mich anmaßen können, zu glauben, ich wüsste besser, was für ein Leben eine Frau sich wünscht, als Tissum, die weithin berühmt für ihre Weisheit, und zudem älter als meine Großmutter ist?" erwidert er geduldig in sachlichem Tonfall.

"Und sie hatte ja recht. Wie hätte ich allein gleichzeitig für unseren Lebensunterhalt sorgen und dich beschützen sollen in einer fremden Umgebung, in der wir niemanden kennen? Wie dich gegen Räuberbanden oder ein Dutzend scharidischer Sklavenjäger verteidigen? - Versteh mich nicht falsch, ich fürchte den Kampf nicht, aber mir ist durchaus klar, dass ich nicht unbesiegbar bin, und was hätte dann aus dir werden sollen? Wo hätten wir wohnen sollen, wenn wir kein eigenes Zelt haben, da du ja keines von deiner Familie bekommen hättest? Mir selbst macht es nichts aus, im Freien zu schlafen, denn ich bin daran gewöhnt, aber dir hätte ich es nicht zumuten können.  Und schlussendlich hat mir Tissum erklärt, dass eine Frau in der Fremde schon nach kurzer Zeit so großes Heimweh nach ihrer Familie hätte - ihren Eltern und Geschwistern, ihren Cousins und Cousinen, ihren Onkel und Tanten, und all den Freunden, mit denen sie aufgewachsen ist, dass selbst die größte Liebe zu einem einzelnen Mann daneben bedeutungslos würde. So wie Tissum es erklärt hatte, schien es unmöglich, dass du nur mit mir allein, aber ohne deine Familie glücklich werden könntest. Also bin ich allein gegangen, damit wir uns nicht mehr begegnen und unseren Frieden wiederfinden. Damit du hier bei deinen Imarhan bleiben und eine neue Liebe finden kannst."

"Imarhan heißt: alle die uns etwas bedeuten" übersetzt er das Asad-Wort für die Gefährten und wendet sich dann wiederMariemmazu, die noch immer seine Hand umklammert hält.

"Imarhan!"Mariemmalacht bitter auf. Sie lässtRASCHIDs Hand los, steht auf und beginnt, das Teegeschirr einzusammeln, während RASCHID unauffällig die Finger der gepressten Hand streckt und beugt, ehe er sie locker neben sich im Sand ablegt. MARIEMMA aber hat die Geste doch gesehen, und erschrickt. "Entschahid" flüstert sie betreten, doch RASCHID winkt lässig ab, also geht MARIEMMA nicht weiter darauf ein.

"Wir sind nichts ohne unsere Familien, hast du gesagt? Das mag wohl sein. Aber in unseren Familien sind wir nur das, was sie uns sein lassen. Weißt du, was ich in meiner Familie bin?“

Sie wirft einen eindringlichen Blick zu RASCHID hin, und stellt dann etwas scheppernder als nötig die Teekanne und die Gläser auf das Tablett zurück. Sie wartet keine Reaktion von ihm ab, sondern trägt beides in ihr Zelt zurück und fährt dann, noch im Zelteingang stehend, fort:

„Ich bin eine kinderlose Frau, die schon zwei Ehen beendet hat, aus Gründen, für die keiner Verständnis hat. Meine erste Ehe hielt nur wenige Monate, denn Ayurs Liebe war nicht stark genug, um mich vergessen zu lassen, was ich verloren hatte. Ich bin wieder zu Ahals gegangen, und es war auch viel einfacher als vorher, sich diskret zu verabreden, weil ich ja nun ein eigenes Zelt habe, aber es war trotzdem nur ein schwacher Trost. Ich habe dann noch ein zweites Mal geheiratet, weil meine Familie nicht aufhörte, auf mich einzureden. Ein Jahr später war das, doch dieses Mal habe ich es nur bis zum nächsten Vollmond ausgehalten. Es war nicht so, dass meine Ehemänner nicht gut zu mir waren, aber sie waren eben nicht du…"

RASCHID schluck trocken und setzt zu einer Antwort an, doch MARIEMMA kommt ihm zuvor:

„Ich will nie wieder jemanden heiraten, den ich nicht wirklich liebe, RASCHID. Irgendwann wird es dann auch keine Affären mehr geben, und eines Tages werde ich einsam sterben, wenn ich nicht etwas an meinem Leben ändere." Sie wirft einen kurzen verschwörerischen Blick zu IDRISSA hinüber, dann einen eindringlich-provozierenden zu RASCHID.

„Einpacken und mitnehmen!“, schlägt WEI LAN noch einmal leise brummend vor.

"Meine Familie hört nicht auf, mir Vorhaltungen zu machen, dass ich für den Stamm verloren sei, wenn ich keinen angemessenen Mann heirate und mit ihm Kinder bekomme. Und wenn ich für den Stamm sowieso verloren bin, kann ich ebenso gut auch von hier weggehen. So wie du es getan hast.

„Du willst deine Familie verlassen? Allein??!“

"Warum denn nicht?“ fragt MARIEMMA mit unschuldigem Augenaufschlag. „Du hast es doch auch getan.“

„Das ist etwas völlig anderes“ erklärt RASCHID im Brustton der Überzeugung.

„Phhh – Määäänner!“, brummelt WEI LAN kopfschüttelnd in ihre Kopfbedeckung.

„Wieso, weil du ein Mann bist, und ich eine Frau?“

RASCHID blickt sie eindringlich an.

„Das vielleicht auch, aber darum geht es nicht, MARIEMMA. Zum einen war ich nicht allein, denn ich hatte kurz zuvor in Chetra eine Gruppe Reisender kennengelernt, denen ich mich angeschlossen habe. Und zum anderen kann ich mich verteidigen, wenn ich angegriffen werde, denn ich bin ein Krieger und ich habe Waffen, mit denen zu kämpfen ich gelernt habe. Du aber hast dein ganzes Leben im Schutz deiner Familie verbracht, und wenn deine Leute angegriffen wurden, haben meine Leute euch verteidigt, wie es unsere Aufgabe ist. Und du willst allein in auf Reisen gehen?“

MARIEMMA erwidert nichts darauf, sondern verschwindet in ihrem Zelt, während RASCHID sich an die Gefährten wendet:

 

"Wir hatten in Nedschef darüber nachgedacht, dass wir einen Taumaturgen bräuchten."

sagt er leiste auf Moravisch zu ihnen, woraufhin WEI LAN hinter ihrem Gesichtsschleier leise zu lachen anfängt.

"Und ich habe Euch erklärt, dass die Inaden genau das sind. Ich denke, wir haben unseren Taumaturgen gefunden. Außerdem kann ich nicht zulassen, dass MARIEMMA allein in die Welt hinausläuft, blind für alle Gefahren, die ihr dort drohen. Bei uns wäre sie nicht allein, und sie beherrscht ein Handwerk, das wir benötigen. Was sagt Ihr?"

„Ich glaube, das musst du gar nicht mehr fragen!“, sagt die Kanthai und an ihrer Stimme hört man, dass sie breit grinst. 

 „Mhm!“ sagt KORF nachdenklich „da sie gefangen vom traditionellen Denken ihrer Familie so derartig in Ungnade gefallen ist, dass nach ihrem Dafürhalten ein weiteres Leben für sie in ihrem Volk nicht mehr in Frage kommt, und sie wohl aus emotionalen Gründen auch keine Zukunft in ihrem angestammten Kreis sieht, wäre sie sehr willkommen!“

Mit einem Seitenblick zu RASCHID fügt er hinzu:

„Mein Freund! Ich denke du hast da einen SEHR großen Fehler gemacht! Diese Frau ist um einiges mehr ein Mann, als du dir selber eingestehen möchtest! Sie hat ein brennendes Herz, einen kräftigen Arm und Ihr Geist ist beseelt und befähigt über Grenzen hinaus zu gehen! Ich hoffe, ich bin dir jetzt nicht zu nahe getreten....

Irritiert blickt RASCHID zu KORF hinüber.

„Ein Mann? MARIEMMA ist doch kein Mann! Und sie würde es sicher nicht gern hören, wenn du sie so bezeichnest.“ erwidert er konsterniert.

„Sie ist zu Recht stolz darauf, eine starke Frau zu sein, wie es auch die Frauen in meiner Familie sind. Aber Kämpfe und weite Reisen ins Ungewisse sind und waren von jeher die Aufgabe der Asad-Männer, weil das Leben einer solchen Frau zu kostbar ist, um dabei ihr Leben zu riskieren. Die Frauen sind unsere Zukunft, die Trägerinnen unserer Kultur und unseres Erbes und als solche achte und respektiere ich jede Einzelne von ihnen, besonders aber MARIEMMA! Ich wollte sie nur beschützen, weil ihr Wohlergehen mir am Herzen liegt, und weil meine Ehre es gebietet.“

Dann wird sein Blick etwas weicher, und er blickt sich dankbar in der Runde um. Zu HALDOR, der sich damit begnügt hatte, seine Frage mit einem zustimmenden Nicken zu beantworten, zu WEI LAN, die ihm ein ermunterndes „Na los!“ zuraunt und dann zu KORF zurück.

Werte Freunde“ sagt er dann langsam und feierlich „ich weiß es sehr zu schätzen, dass MARIEMMA Euch als neue Gefährtin willkommen ist. Und ja, KORF, sie hat ein brennendes Herz, deshalb ist mir ihr Leben ja so kostbar, dass ich sie lieber hier bei ihrer Familie in Sicherheit wissen wollte, als auf gemeinsamen Reisen ins Ungewisse ihr Leben zu riskieren.“

„Oh ja, so einem Paar bin ich auch ´mal begegnet!“, sinniert WEI LAN vor sich hin. „Die Beiden haben drei Jahre gelitten, weil sie glaubten, das Beste für den anderen zu wollen. War genauso falsch…“

"RASCHID deine Sorge um Mariemma ehrt dich, und ist über allen Maßen ehrenwert und untadelig für einen Mann deines Volkes, und ja du hast Recht sie ist wahrlich kein "Mann" im geschlechtlichem Sinne..., verzeih' mir, wenn ich dich irritiert haben sollte..., wie soll ich es dir sagen..., "

KORF nippt an seinem Tee;

"Ich bin sehr viel herumgekommen, habe viele Völker und Lebensweisen gesehen und kennen gelernt..., mit "Mann" meinte ich eher die Form von Selbstbestimmung und eine weiter gefasste Lebensweise als ihr bisheriges Leben, mit seinen eng gefassten Grenzen vorgibt..., fürwahr sie ist wirklich eine Frau...,"

er ringt sichtlich mit der Argumentation.

"Sie möchte unbedingt ein Leben mit Dir zusammen erleben..., vielleicht auch erleiden..., aber mit jeder Faser ihres Seins, möchte sie mit dir und bei dir sein, ungeachtet deiner Sorge um ihr Wohlbefinden..., du erhebst sie zu einem eifersüchtig geschützten Kleinod, etwas, was sie offenbar nicht sein möchte..., das beeindruckt mich sehr, RASCHID!"

"Ja, sagt RASCHID leise und blickt gedankenverloren ins Leere, wobei er unbewusst seine Hand massiert, die MARIEMMA so heftig gedrückt hatte.

"Mich auch, mein Freund! Aber damals war sie auch noch nicht so stark wie heute."

 

Bevor noch jemand Gelegenheit zu einer Antwort hat, erscheint MARIEMMA wieder im Zelteingang. Ihre Hände hält sie hinter dem Rücken verborgen.

"Wenn ich dich richtig verstehe, RASCHID," wendet sie sich an Selbigen: "dann bist du der Meinung, dass nur jene auf Reisen gehen sollten, die sich selbst verteidigen können, ja?"

RASCHID, der seine Rede noch kaum beendet hat, braucht einen Moment, um zu reagieren.

"Wenn man keine bewaffnete Eskorte bei sich hat," antwortet er dann, jedes Wort sorgsam abwägend "wäre es zumindest von Vorteil."

"Nun," sagt MARIEMMA gedehnt "ich kann doch kämpfen…" und auf RASCHIDs verwirrten Blick hin fährt sie fort: "Erinnerst du dich noch, wie du uns Stockfechten beigebracht hast, als wir Kinder waren?"

RASCHID ist nun wieder voll auf sie konzentriert.

"Das?" er wirft verächtlich ein Handvoll Luft über seine Schulter. "Das war doch kein Kämpfen. Das waren Spiele für kleine Jungen. Und die Stöckchen, die wir damals hatten, waren auch keine Waffen. Sie waren bestenfalls gut genug, um Schakale zu vertreiben, wenn wir auf entlegenen Weiden Ziegen hüten mussten. Wir haben damals alle den Tag herbeigesehnt, an dem wir endlich richtige Waffen erhalten würden."

Hinter ihrem Rücken holt MARIEMMA einen Kampfstab hervor und hält ihn RASCHID entgegen.

"Den habe ich selbst gefertigt." sagt sie stolz. "Poliertes Akazienholz, mit Leder umwickelte Griffe, Eisenbeschläge an beiden Enden, damit man ihn beidhändig führen kann. So wie du es uns damals beigebracht hast."

"Das" erwidert RASCHID beeindruckt, nachdem er den Kampfstab begutachtet hat, "IST eine Waffe! Ich bewundere deine handwerklichen Fähigkeiten. Aber du brauchst nicht allein in die Fremde zu gehen, denn du bist in unserer Gemeinschaft willkommen, wenn du dich uns anschließen willst."

MARIEMMA lächelt ihr warmherzigen Lächeln.

"Endlich!" seufzt sie erleichtert und nimmt den Kampfstab wieder an sich.

"Ich dachte schon, du würdest das nie vorschlagen."

Sie legt den Kampfstab hinter sich, setzt sich wieder neben RASCHID und flüstert ihm etwas zu, während sie nach seiner Hand tastet. Dann blickt sie sich in der Runde der Gefährten um, sieht einem nach dem anderen kurz, aber herzlich ins Gesicht und nickt jedem einzeln bestätigend zu.

"HALDOR, WEI LAN, KORF. Ich komme gern mit euch."

Währenddessen bricht IDRISSA, der das Szenario gespannt beobachtet hatte, in schallendes Gelächter aus.

"Oh, sie weiß immer noch, wie sie bei dir erreicht, dass du genau das tust, was sie will, Amidi!" gluckst er kichernd. "Aber das mit dem Weggehen war kein Bluff, wie du jetzt vielleicht denkst. Sie hatte das wirklich geplant, schon seit ihrer zweiten Scheidung eigentlich und es wurde ihr von Jahr zu Jahr ernster damit. Sie sogar Schmieden bei Onkel Amazzal gelernt, und das gar nicht mal schlecht, wenn ich das als Fachmann mal so sagen darf. Nur über ihre Pläne hat sie mit niemandem außer mir gesprochen."

Halb hinter ihrer beider Rücken verborgen dreht RASCHID MARIEMMAs Handfläche nach oben, und malt Zeichen hinein. Sein Blick aber ist nach vorn gerichtet, in IDRISSAs Richtung.

"Dafür waren keine Tricks erforderlich, Amidi." stellt er klar. "Dass MARIEMMA jetzt mit uns kommt, ist die Erfüllung all jener Träume, die zu träumen ich mir seit Jahren verbiete. Ich musste nur sichergehen, dass sie wirklich bereit ist, ihre Familie und sogar ihre Heimat zu verlassen, damit wir wieder zusammen sein können. Nun aber soll uns nichts und niemand mehr trennen können!" 

Neben ihm strahlt MARIEMMA über das ganze Gesicht, und nickt so heftig, dass ihr das Tuch vom Kopf rutscht und die Amulette in ihren Zöpfen klimpern.

 

In diesem Moment steck eine Frau mittleren Alters ihren Kopf über die Palmblattmatte, mit der Mariemma den kleinen Lagerplatz der Gefährten umstellt hatte, und redet in energischem Tonfall auf MARIEMMA ein. MARIEMMA setzt zu Protest an, doch RASCHID legt sacht eine Hand auf ihren Arm. Dann steht er ruhig und gelassen auf, und zieht MARIEMMA neben sich hoch, während er mit der anderen Hand seinen Turban zurechtzupft und den Schleier bis dicht unter die Augen zieht. Als Beide nebeneinanderstehen, streicht er seine Gewänder glatt, richtet sorgfältig seine Amulette aus, und nickt ihr aufmunternd zu. Zögernd schiebt MARIEMMA die Palmblattmatte ein Stück beiseite und geht langsam zu der Frau. RASCHID folgt ihr mit 2 Schritten Abstand stolz und aufrecht, doch mit gesenktem Blick.

"Uiuiui" murmelt IDRISSA. "Das ist unsere Mutter, und sie ist ziemlich verärgert, dass MARIEMMA RASCHID an ihr Feuer eingeladen hat. Sie sagt, MARIEMMA soll sich von diesem Mädchenverführer fernhalten und endlich erwachsen werden.“ Dolmetscht IDRISSA. „Es gäbe eine Menge Arbeit zu erledigen, und sie sollte sich die Verrücktheiten aus dem Kopf schlagen. Jetzt faucht sie RASCHID an, wieso er zurückgekommen ist, und was er jetzt noch von MARIEMMA will, nach all den Jahren, wo sie ihn doch endlich vergessen hatte.“

Bevor RASCHID reagieren kann, antwortet MARIEMMA ihrer Mutter in ziemlich patzigem Tonfall.

„Sie sagt, dass sie RASCHID keinen Tag lang vergessen hat, und es auch niemals tun wird.“ Dolmetscht IDRISSA. 

Derweil atmet RASCHID tief durch, nimmt eine würdevolle Haltung an und wendet sich an MARIEMMAs Mutter.  Seine Stimme ist ruhig und respektvoll, beinahe feierlich und er blickt ehrerbietig zu Boden.

IDRISSA schnappt nach Luft, bevor er RASCHIDs Antwort übersetzt.

„RASCHID sagt zu unserer Mutter, dass ihr seine höchste Ehrerbietung gebührt, dafür dass sie der Liebe seines Lebens das Leben geschenkt hat. Das hat er schon damals gesagt, als er MARIEMMA heiraten wollte.  - Schlauer Trick, Amidi. Oh, es geht noch weiter. Das konnte er sich wohl nicht verkneifen.

Er sagt, dass sich - bei allem Respekt - die Frage nach dem Warum wohl nicht mehr stellt, da er ja offenbar gerade noch rechtzeitig zurückgekommen ist, um zu verhindern, dass MARIEMMA allein und schlecht vorbereitet in die Welt hinausläuft, blind für alle Gefahren, die ihr dort drohen, weil sie es zu Hause nicht mehr aushält. Und wenn er geahnt hätte, wie unglücklich sie hier ist, wäre er schon viel eher zurückgekommen. Das ist heftig, aber er hat ja recht. Allerdings hat er Mutter damit erst richtig verärgert. Schade, vielleicht hätte sie sich sonst doch noch von seinen guten Manieren beeindrucken lassen. Tja, jetzt hat er es wohl verbockt. Früher hätte er nicht so mit ihr geredet. Mutter jedenfalls maßregelt ihn, er soll sich bloß nicht einbilden, dass sie jetzt seine Schwiegermutter ist, denn das würde nie passieren. Und dass er verschwinden, und MARIEMMA in Ruhe lassen soll.“ 

Tränen glänzen in MARIEMMAs Augen, als sie ihrer Mutter trotzig ins Gesicht blickt aber ihre Stimme zittert nur wenig als sie antwortet.

"Sie sagt, Mutter weiß ganz genau, dass sie wirklich versucht hat, ohne RASCHID glücklich zu werden, aber Liebe lässt sich nun einmal nicht erzwingen. Deshalb wollte sie auch keine Kinder, weil eine Ehe ohne Liebe kein guter Ort für Kinder ist. Sie sagt auch, dass sie auf keinen Fall hierbleiben wird, wo sie in all den Jahren lieber mit RASCHID weit weg gewesen wäre als hier ohne ihn. Dass sie jeden Abend zu Ormut gebetet hat, dass er zurückkehren möge. Und dass sie mit ihm weggehen wird.“ Dann stellt sie sich demonstrativ neben RASCHID.

RASCHID legt liebevoll-beschützend einen Arm um ihre Schulter und antwortet in immer noch ruhig-respektvollen Tonfall. Seine Haltung ist nun mehr die eines Siegers, den die Wut des Besiegten eher mit Mitleid erfüllt als mit Verärgerung.

„Er sagt - uiuiui, das muss ich wörtlich übersetzen“ kommentiert IDRISSA. „Also er sagt: es tut mir leid, dass es so weit kommen musste, Chadna Ult Adon, aber du machst MARIEMMA traurig, und das kann ich nicht zulassen. Wenn ich gehe, dann kommt sie mit mir, so wie sie es sich gewünscht hat. Ich habe ihr versprochen, dass uns nichts und niemand mehr trennen kann. Niemand! Das ist mein letztes Wort!“

Damit wenden er und MARIEMMA sich ab und gehen zu den Gefährten zurück.

„Dann sollte ich jetzt wohl meine Sachen packen, damit wir so bald wie möglich gehen können.“ sagt MARIEMMA leise, aber gefasst.

„Es sieht ja nicht so aus, als ob ich hier noch zu Hause bin.“

Sie löst sich aus RASCHIDs Umarmung und verschwindet in ihrem Zelt, wo sie einen Kleidersack von der Zeltstange nimmt, in den sie wahllos Kleider, Tücher, Schmuck und Sonstiges stopft, alles wieder ausräumt und von vorn anfängt.

WEI LAN steht auf, geht zu ihr und hockt sich neben sie. „Kann ich dir vielleicht helfen?“, fragt sie und unterstreicht ihre Frage mit Gesten. "Vielleicht sollten wir die zerbrechlichen Sachen wie die Teegläser in die Kleidung einwickeln? Nicht, dass wir später kein Teegeschirr mehr haben. Nicht auszudenken!“

MARIEMMA lächelt scheu und ein wenig traurig, und folgt leicht irritiert den Gesten der Kanthai mit Augen, in denen es feucht schimmert.

Für einen kurzen Moment legt sie sacht die Fingerspitzen einer Hand auf WEI LANs, vom Ärmel ihres Gewandes bedecktes Handgelenk.

"Tamidit-in[8]" sagt sie leise mit erstickender Stimme, und wendet ihr dann hastig den Rücken zu.

RASCHID wirft einen Blick hinüber zu MARIEMMAS Zelt, sieht WEI LAN gestikulieren, und beschließt einzugreifen.

Drinnen hockt er sicher hinter die beiden Frauen, legt MARIEMMA sacht eine Hand auf die Schulter und spricht in liebevollem Tonfall mit ihr. Auch MARIEMMAs Stimme klingt liebevoll, hat aber auch einen leicht melancholischen Unterton. Dabei gleitet ihr Blick zu WEI LAN, woraufhin RASCHID ihr etwas ins Ohr flüstert.

„Meine Freundin“ sagt MARIEMMA langsam und deutlich mit einem warmherzigen Lächeln auf moravisch, wobei sie wieder die Fingerspitzen einer Hand auf WEI LANs, Handgelenk legt.

„Tamidit-in - meine Freundin.“

Dann spricht MARIEMMA eine Weile mit RASCHID, woraufhin sich dieser an WEI LAN wendet:

„Mariemma sagt, es ist sehr nett von dir, dass du ihr beistehst. Sie ist froh, dass wir in der Fremde nicht allein sein werden, sondern Freunde haben, das macht ihr die Trennung von ihrer Familie etwas leichter. Sie will sich bemühen, so schnell wie möglich moravisch zu lernen, damit sie selbst mit dir sprechen kann. So wie eine Frau mit ihrer Freundin spricht.“

Während er noch übersetzt, redet MARIEMMA schon weiter. Dabei deutet sich mit ausladenden Handbewegungen auf ihre Besitztümer um sich herum, sowie auf das Bett und die Zeltdecke über ihnen.

„MARIEMMA sagt“ fährt RASCHID anschließend fort: „du kannst ihr gern beim Packen helfen, wenn du möchtest, aber es geht weniger darum, wie ihre Habseligkeiten verpackt werden sollen, sondern vielmehr darum, was sie überhaupt mitnehmen kann. Sie wird nur das Kamel haben, auf dem sie reitet, und wir alle können etwas von ihrem Gepäck auf unseren Kamelen verteilen, aber viel wird das nicht sein. Wir können ihr bei der Auswahl helfen, denn sie weiß ja nicht, was ihr in Moravod von Nutzen wäre. Nur das Zelt und das Bett wird sie nicht mitnehmen können, weil wir nicht die Möglichkeit haben es zu transportieren. Für sie ist es eine endgültige Entscheidung, denn alles, was sie hier zurücklässt werden andere bekommen. Keine Nomadenfamilie würde sich die Mühe machen, all diese Dinge von Lager zu Lager zu transportieren und instand zu halten, wenn niemand sie nutzt.“ 

Eine Weile unterhält er sich mit MAIEMMA, dann wendet er sich wieder an WIE LAN:

„MARIEMMA fragt, wie es bei dir und den anderen war. Ob ihr alle aus dem Ort stammt, in dem unsere Gemeinschaft jetzt wohnt. Oder ob einige von euch auch alles hinter sich gelassen haben, was einmal ihre Heimat und Familie waren, so wie sie es jetzt tun muss.

Ich habe ihr gesagt, dass die meisten von uns aus anderen Ländern stammen, und wir deshalb alle zusammen in einem Gasthaus wohnen. - Das ist einer Frau natürlich auf Dauer nicht zuzumuten. Wenn MARIEMMA hier alles zurücklassen muss, werde ich ihr in Geltin ein Haus besorgen müssen. Eine Frau braucht ihre eigene Feuerstelle und ihr eigenes Dach, für sich und ihre Familie. Sie kann nicht dauerhaft als Gast bei anderen Leuten leben.

Während er noch übersetzt, redet MARIEMMA schon weiter auf RASCHID ein, woraus sich ein längerer Dialog ergibt. Als er sich wieder an WEI LAN wendet, übersetzt er allerdings nur einen Satz:

„MARIEMMA sagt, dass wir beide nun wirklich für unsere Stämme verloren sind. Da ist es gut, dass wir alle gemeinsam einen neuen Stamm gründen können. Wobei ich mich frage, ob Ihr überhaupt ein Stamm sein wollt…“

WEI LAN bläst daraufhin die Backen auf, lässt zischend die Luft wieder entweichen und entgegnet: „Puuuh – das weiß ich gar nicht. Darüber hab‘ ich noch nie nachgedacht… Ich bin ja noch gar nicht lange mit dieser Truppe unterwegs, wisst ihr? Und was die anderen für ihre Zukunft geplant haben hab‘ ich nie gefragt! “

„Ich auch nicht.“ erwidert RASCHID ernst. „Aber MARIEMMA kennt nichts anderes, als dass Menschen in Stämmen leben. Vieles wird neu und ungewohnt für sie sein. Ich hoffe nur, dass sie in Moravod glücklich wird.“

Mit liebevollem und etwas besorgtem Blick beobachtet er, wie MARIEMMA aus ihren Habseligkeiten einige Kleider und Schmuckstücke heraussucht und ihm und WEI LAN fragend entgegenhält. Sie blickt zwischen RASCHID und WEI LAN hin und her, lächelt WEI LAN zu und wendet sich dann mit wenigen kurzen Worten an RASCHID. Dieser nickt, und erklärt WEI LAN:

„Mariemma sagt, dass ich mich jetzt besser um die anderen Gäste kümmern sollte. Das hier ist Frauensache, und es genügt, wenn ihr eine Freundin dabei hilft, die sich in dem fremden Land auskennt, in das sie reisen wird.“ 

 

Als RASCHID das Zelt verlassen hat, zieht MARIEMMA einen Ledersack unter ihrem Bett hervor.  

„Aselsu i Asikel[9].“ erklärt sie, an WEI LAN gewandt und breitet den Inhalt vor sich aus: eine dunkle lange Hose, ein einfaches blaues Gewand mit Ärmeln, und ein hellblaues knöchellanges ärmelloses weites Übergewand, einen Ledergürtel, in dem ein Dolch steckt, sowie eine lange blaue Stoffbahn. Es ist die gleiche Art von Kleidungwie es auch WEI LAN und die Männer tragen. Dann steht sie auf und stellt Matten aus Palmblättern vor den Zelteingang und die offenen Seitenwände des Zeltes. Somit hinreichend vor indiskreten Blicken geschützt, zieht sie ihr Kleid samt Kopftuch über den Kopf, ohne sich vor WEI LAN zu genieren, wobei sie kräftige Arme und Beine, sowie üppige weibliche Rundungen enthüllt.

„Aselsu i Ezeghal[10].“ erklärt sie, auf das Kleid und das Kopftuch deutend, faltet beides liebevoll zusammen und verstaut es sorgfältig in dem Ledersack. Nachdem sie die bereitgelegte Hose und das Reisegewand samt Gürtel und Dolch angezogen hat, rollt sie die Palmblattmatten wieder zusammen und schiebt sie unter ihr Bett. Von dort holt sie zu guter Letzt noch einen Kamelsattel hervor, den sie in der Mitte des Zeltes platziert und bringt dann das Teegeschirr zum Zelteingang.

 

„Alles in Ordnung bei ihr?“ wendet sich IDRISSA an RASCHID, kaum dass dieser das Zelt verlassen hat.

„Alles in Ordnung.“ erwidert RASCHID und setzt sich neben den Freund, doch IDRISSA scheint mit der Antwort nicht zufrieden zu sein, denn er fügt – nun auf Asadi – mit besorgter Meine noch einige Sätze hinzu. RASCHIDs Reaktion lässt vermuten, dass auch er nicht ganz sicher ist, ob MARIEMMA fern der Heimat in Moravod wirklich glücklich werden kann. Die Blicke der beiden Freunde wandern immer wieder zu MARIEMMAs Zelt hinüber, doch dann entspannen sich beide sichtlich, als MARIEMMA die Matten vor den Zelteingang stellt und sie nicken einander verstehend zu. Das Wort, das IDRISSA daraufhin murmelt, kann nur etwas in der Art von „Frauenangelegenheiten“ bedeuten.

Als MARIEMMA in Männerkleidung im Zelteingang erscheint, wirft RASCHID IDRISSA einen überraschten Blick zu, sagt dann aber doch nichts dazu.

„Was denkst du denn, wie sie reisen wollte?“ fragt IDRISSA leicht pikiert. „Im Wickelgewand auf einem Esel? Also ehrlich, Amidi, selbst wir Inaden wissen, dass man für weite Reisen ins Unbekannte Männerkleidung, Waffen und ein Kamel mit passendem Sattel braucht. Und es war ihr wirklich ernst damit.“

„Ich verstehe“ murmelt RASCHID nur geistesabwesend, während sein Blick auf MARIEMMAs gegürtete Taille gerichtet ist.

„Aber es ist wirklich besser, dass sie nicht allein reisen muss, sondern bei uns in Sicherheit ist, und ich sie beschützen kann. Für Schönheiten wie sie werden auf scharidischen Sklavenmärkten hohe Summen gezahlt.“

Am Zelteingang kippt MARIEMMA die verbrauchten Teeblätter aus der Teekanne, reinigt Kanne und Gläser mit möglichst wenig Wasser, und trocknet das Geschirr dann mit einem sauberen Tuch ab. Besonders das silberne Tablett, auf dem das Geschirr gestanden hatte, poliert sie sorgfältig, bis man sich darin spiegeln kann. Dann sucht sie ihre Habseligkeiten zusammen, und breitet sie auf einen bunten Webteppich aus, den sie zuvor zwischen sich und WEI LAN ausgerollt hat:

ein mehrere Meter langes blaues Wickelgewand; ein schlichtes blaues Kleid, zwei blaue Kopftücher; zwei weiße Blusen, von denen eine mit Ornamenten bestickt ist; eine hellblaue bestickte Bluse; einen knöchellangen schwarzen Wickelrock; sowie verschiedene Werkzeuge für Metall- und Lederarbeiten und eine beachtliche Menge an Silberschmuck. Außerdem einige Kissen und vier Kleidersäcke aus bunt gefärbtem Leder, sowie einige Decken und Kissen aus bunter gewebter Wolle. Daneben stellt sie noch einige Schüsseln aus Holz und emailliertem Blech, einen gusseisernen Kochtopf, einige Holzlöffel und einen großen Löffel zum Umrühren für den Kochtopf,

Die Teekanne und die Teegläser stellt sie lächelnd vor WEI LAN hin.

Auf der anderen Seite des Teppichs begutachtet sie dann kritisch ihre Schmuckstücke, deutet auf jedes einzelne und sieht WEI LAN dabei fragend an:

Die Ketten, bei denen die Kanthai zustimmend nickt, hängt sie sich um den Hals, die Armreifen streift sie über ihre Handgelenke. Die anderen Schmuckstücke schiebt sie beiseite zu den Werkzeugen. Als WEI LAN bei einem Schmuckstück besonders viel Zustimmung zeigt, schiebt MARIEMMA es zu ihr hinüber:

„Inuf[11]“ sagt sie mit warmherzigem Lächeln „Inuf i Tamidt in[12].“ und ermuntert sie mit Gesten, das Schmuckstück anzulegen.

 

„Braucht ihr noch Ausrüstung?“ fragt IDIRSSA RASCHID, als MARIEMMA sich wieder in ihr Zelt zurückzieht.

„Wir sind schließlich Inaden. Wir können alles herstellen, was ihr braucht. Und wenn ich euch besuche, um dir deine Takuba zu bringen, kann ich auch noch Aufträge annehmen, und euch die bestellten Waren mitbringen.“

„Du willst den weiten Weg nach Geltin kommen, nur um mir meine Takuba zu bringen?“

fragt RASCHID irritiert.

„Eine solche Reise kann einen Mond, dauern, vielleicht länger.“

Der bis zum Kinn hinuntergerutschte Schleier vor IDRISSAs Gesicht verbirgt sein schelmisches Grinsen nicht.

„Ich will doch sehen, wie es meiner Schwester geht, und wie ihr da lebt in der Fremde. Und außerdem wollt ihr doch wohl nicht heiraten, ohne dass ich als Treuzeuge dabei sein kann!“

Gelächter ertönt aus MARIEMMAs Zelt.

„Natürlich nicht! ruft sie kichernd hinüber. „Du bist doch mein Lieblingsbruder.“

Freundschaftlich legt RASCHID eine Hand auf IDRISSAs Arm.

„Natürlich nicht, Amidi!“ bestätigt er mit warmer Stimme.

„Was dein Angebot angeht … vielleicht könnten wir wirklich die Handwerkskunst deiner Familie in Anspruch nehmen.“ Sein Blick wandert zwischen IDRISSA und den Gefährten hin und her.

"Sag mal, KORF" wendet er sich dann bedächtig auf Moravisch an selbigen.

"Du und Dein Zwilling, Ihr seid auch Schwertkämpfer, wie ich."

„Hmm … wer die Klinge nicht ordentlich führen kann, lebt nicht lang‘ … bisher hatte ich Glück. Aber du hast Recht, gute Schwerter sind rar, und mein Weltenzwilling erzählte wahrhaft gruselige Geschichten aus seiner Welt…, worauf willst du hinaus?“

„Nun …“ fährt RASCHID gedehnt fort „Ihr könntet Schwerter bekommen, die ebenso gut wie meines sind. IDRISSA hat angeboten, weitere bestellte Waren nach Geltin zu bringen, wenn meine Takuba fertig ist. Sie wären dann maßgeschmiedet auf eure Körpermaße. Was hältst du davon?“

„Schwerter, mit denen man Vampire töten kann? Hm … das könnte recht nützlich sein …“ grübelt KORF laut. „Hat er auch gesagt, was uns das kosten soll?“

RASCHID winkt ab. „Das lass mal meine Sorge sein.“ Erwidert er leichthin. „Ich schulde deinem Zwilling weit mehr als das. Und ich warte schon lange auf eine Gelegenheit mich erkenntlich zu zeigen.“

Nachdem KORF zustimmend genickt hat, wendet sich RASCHID wieder an IDRISSA und übersetzt. Während die Einzelheiten zwischen den dreien ausgehandelt werden, und IDRISSA bei KORF maß nimmt, erscheinen drei Köpfe über dem Palmblattmattenzaun.

 

Im Zelt beginnt MARIEMMA derweil, ihre Werkzeuge zu putzen und dann in den Wickelrock zu wickeln: verschiedene Zangen, Punzen, Feilen und kleine Hämmer, und sogar einen kleinen Amboss – den sie allerdings nicht einpackt. Außerdem eine Ahle und einige kräftige Nadeln, mit denen man Lederstücke zusammennähen kann. Die beiseitegelegten Schmuckstücke wickelt sie in die blaue Bluse. Inzwischen wickelt WEI LAN das Teegeschirr sorgfältig in die beiden Kopftücher und dann, gut gepolstert mit der schlichten weißen Bluse, in eine lederne Kissenhülle, die MARIEMMA ihr hingeschoben hatte.

Bevor die Kanthai das Silbertablett verpacken kann, nimmt MARIEMMA es an sich, und hält es sich vors Gesicht wie einen Spiegel, in dem sie sich kritisch mustert.

„Tisit[13]“ sagt sie, und deutet auf das Tablett. Dann hält sie es WEI LAN auf gleiche Weise entgegen und reicht es ihr schließlich, während sie nach dem langen Stoffstreifen greift, den sie zusammen mit der Reisekleidung bereitgelegt hatte. Wie in einen nicht vorhandenen Spiegel blickend beginnt sie, sich das Tuch um den Kopf zu wickeln.  „Tagelmust[14]“ erklärt sie „i Ezegha[15]l“

Als WEI LAN verstanden hat, und ihr das Tablett wie einen Spiegel entgegenhält, wickelt MARIEMMA das Tuch wieder ab, und beginnt – nun unter Zuhilfenahme des Spiegels – daraus einen Turban samt Gesichtsverhüllung zu wickeln. Am Ende zieht sie die Gesichtsverhüllung bis unter das Kinn, blinzelt WEI LAN zu, und reicht ihr das Tablett zum Verpacken. Diese wickelt es sorgsam in die bestickte weiße Bluse und dann in eine weitere lederne Kissenhülle. Von den Schüsseln verpackt sie nur zwei aus Holz und zwei aus Emaille, sowie einige Holzlöffel. Den Kochtopf und die übrigen Schüsseln schiebt sie bedauernd beiseite.

Schließlich steckt MARIEMMA die verpackten Werkzeuge samt Schmuck in einen der ledernen Kleidersäcke, und darüber eine der gewebten Decken

Die Kissenhüllen mit dem Teeservice verstaut sie in dem Kleidersack mit ihrer Festtagskleidung.

 

„MARIEMMA?“ ruft einer der Köpfe, der einer Frau gehört, welche etwas älter als MARIEMMA zu sein scheint. Der zweite Kopf gehört einer jüngeren Frau, der dritte einem jungen Mann.

„Hier!“ ruft MARIEMMA auf Scharidisch aus ihrem Zelt zurück. „Was gibt es denn, Fitia?“

„Ich bin hier mit Tamila und Mohara. „ruft Fitia zurück.

“Kommt rein und bringt Teegeschirr mit, meines ist schon verpackt!“ erwidert MARIEMMA.

Daraufhin schieben die drei die Matten beiseite, und Tamilla und Mohara kommen zu den Gefährten ans Feuer, während Fitia zu ihrem Zelt zurückläuft, und dann mit Teegeschirr zurückkehrt. Sie schiebt die Matte wieder in den Zaun und gesellt sich dann zu den anderen.

„Unsere Cousinen Fitia und Tamilla und unser jüngerer Bruder Mohara“ stellt IDRISSA die drei vor und RASCHID stellt den Neuankömmlingen die Gefährten vor.

Fitia scheint etwas älter zu sein als IDRISSA und MARIEMMA; Tamilla einige Jahre jünger, aber durchaus erwachsen. Ebenso wie Mariemma tragen beide blaue Gewänder, ein blaues Tuch über dem Kopf und viele silberne Kettenanhänger an Lederschnüren um den Hals.

Mohara trägt stolz die Tracht erwachsener Männer wie jemand, dem dieses Privileg erst vor kurzem verliehen wurde. 

„Mutter sagt“ sagt Mohara, als er endlich zu Wort kommt „ihr sollt über Nacht bleiben, damit ihre Tochter nicht mitten im Tenere übernachten muss. Ihr bekommt auch Abendessen. MARIEMMA und IDRISSA sollen es abholen. Aber MARIEMMA soll bei Mutter und Vater im Zelt schlafen, und ihr Gäste in MARIEMMAs.“

Aus dem Zelt, erhebt MARIEMMA Protest, woraufhin sich RASCHID erhebt und zu ihr geht.

 

Im Zelt hat MARIEMMA inzwischen mit WEI LANs Hilfe ihre Habseligkeiten in vier Ledersäcken verstaut und um einen Kamelsattel herum aufgestapelt. Sie nickt WEI LAN kameradschaftlich zu und redet dann mit energischer Stimme auf RASCHID ein, als dieser auf sie zukommt.

Sacht legt RASCHID eine Hand auf MARIEMMAS Schulter und spricht leise mit ihr. MARIEMMAs Stimme wird ruhiger, schließlich nickt sie.

„MARIEMMA dankt dir für deine Hilfe.“ Wendet sich RASCHID nach einem kurzen Dialog an WEI LAN. „Wir werden das Angebot ihrer Familie annehmen. Lasst uns zu den anderen zurückkehren.“

 

Die drei Neuankömmlinge haben sich inzwischen zu den Gefährten ans Lagerfeuer gesetzt und blicken sich neugierig um. Fitia und Mohara haben sich neben HALLDOR gesetzt, Fitias Teeservice zwischen sich. Tamilla sitzt auf den Platz zwischen KORF und HALLDOR, auf dem vorher noch WEI LAN gesessen hatte.

 

„Bist du verheiratet?“ Fitia fragt interessiert und blickt HALLDOR gespannt an.

Tamilla richtet mit leicht schief gelegtem Kopf einen kessen Seitenblick auf KORF und stellt ihm die gleiche Frage. Natürlich auf Scharidisch, so dass KORF zunächst nichts versteht. Überrascht schaut er Tamilla an und deutet ihr mit holperigen Worten und Gesten, sie möge die Frage wiederholen, da er ihre Sprache nur bruchstückhaft beherrscht. Tamilla versteht und findet sehr trickreich Gesten, die den Zustand des Verheiratet seins andeuten. KORF versteht, lächelt milde und verneint.

Dann deutet er, mit sichtlicher Anstrengung um die rechten Worte einer Sprache ringend, die er schlecht beherrscht, sein ruheloses Leben eines Kriegervagabunden sei nicht vereinbar, mit der Sorge um Haus, Hof und einem Leben an einem Ort, mit einer Person, die ihn wohl um seiner selbst Willen liebe, er aber keinen Frieden fände.

Seine Gefährten seien für ihn etwas, was einer Familie für ihn am nächsten käme.

Tamilla lauscht angestrengt, und versucht gelegentlich mit gezielten Fragen, und unter Zuhilfenahme von Gesten die Verständigung zu verbessern:

„Also, Reisen und Kämpfen ist Freiheit, und das ist gut? Wie bei den Asad?

Und Heiraten ist Nicht-Reisen und Nicht-Freiheit und das ist nicht gut, Ja?

Aber die Asad heiraten! Die Männer reisen und die Frauen sind zu Hause.“

Sie überlegt eine Weile, dann lächelt sie.

"Das ist nicht gut, nein. Arme Asad-Frauen. Immer allein sein und warten. Inaden-Männer reisen nicht. Sie sind zu Hause und arbeiten. Das ist gut.

Aber Mariemma und RASCHID heiraten und reisen zusammen. Das ist auch gut!"

Wobei ihr noch etwas einfällt und sie mit neckischer Stimme hinzufügt:

„Arme Asad-Männer, immer einsam auf Reisen. Und auch armer KORF? Immer einsam auf Reisen?“

„Mhm …“ erwidert KORF nachdenklich. „Einsam? – Nein, Tamilla …nur … alleine.“

Tamilla lauscht aufmerksam und lässt sich KORFs Worte durch den Kopf gehen.

Schließlich sagt sie nachdenklich: „Allein ist nicht gut für das Herz.“ Wobei sie eine Hand auf ihr Herz legt. „Allein ist einsam.“

Worauf KORF nichts erwidert, sondern nur schmerzlich wissend lächelt.

Die Armreifen an Tamillas Handgelenk klirren leise, als sie ihm - betont unauffällig - eine Hand reicht.

KORF nimmt sie sanft in beide Hände, was Tamilla bereitwillig geschehen lässt. Nach möglichst einfachen Worten suchend bemüht sie sich, über Belanglosigkeiten zu plaudern; fragt, wie es ihm in Eschar gefällt, und wie das Leben in seiner Heimat ist. Zugleich scheint sie auf etwas zu lauschen oder zu warten. Als von KORF keine weitere Initative kommt, löst sie sacht ihre Hand aus seiner. Dann nimmt sie seine Hand in ihre, dreht die Handfläche nach oben und malt mit einem Finger Zeichen hinein.

KORF betrachtet lange und intensiv die unsichtbaren, aber gefühlten Linien in seiner Handfläche und beginnt zunächst unmerklich, dann aber immer deutlicher werdend zu lächeln …, dann sagt er leise, für seine Kameraden nicht hörbar: „ja“.

Tamilla lächelt zurück, ist aber auch etwas irritiert, weil KORF offensichtlich die Nachricht nicht richtig verstanden hat. Sie überlegt einen Moment, dann versucht sie, ihre Botschaft zu verdeutlichen: „Heute Nacht“ sagt sie leise „wenn alle schlafen“ Sie legt ihren Kopf schief auf ihre an einander gelegten Hände und schließt die Augen als würde sie schlafen.

 „Ich“ sagt sie, zeigt auf sich, und dann zeichnet einen Punkt in die Mitte seiner Handfläche „schlafe bei Mutter und Vater im Zelt.“ Sie zeichnet ein flaches Dreieck, wie ein Dach um den Punkt herum. Dann zeigt sie unauffällig dorthin, wo die Gefährten vorhin mit dem Schmied über RASCHIDs Schwert verhandelt hatten. „Mutter und Vater“ sagt sie „Minata und Amazal.“ Als nächstes zeigt sie auf KORF „Du“ sie zeichnet einen Punkt auf sein Handgelenk „kommst zu mir“ sie spaziert mit zwei Fingern von dem Punkt an KORFs Handgelenk bis kurz vor die Mitte seiner Handfläche – dorthin, wo sie den Rand des Dreiecks gezeichnet hatte. „Ich“ sie zeigt auf sich „sitze vor dem Zelt“ sie zeichnet das Dreieck neu, und dann einen Punkt daneben. „du und ich“ sie zeigt zuerst auf KORF, dann auf sich selbst „gehen irgendwohin“ sie setzt zwei Punkte in die Mitte von KORFs Handfläche und spaziert dann mit den Fingern ziellos aus der Mitte heraus zum Rand.


Fitia unterhält sich derweil mit HALLDOR, was sich bedeutend einfacher gestaltet, weil HALLDOR recht gut Scharidisch spricht. Als HALLDOR ihre Frage ob er verheiratet sei bejahrt, fragt sie ihn nach seiner Familie, ob er Kinder hat, wo seine Leute leben.

HALLDOR erzählt ihr, dass seine Frau und seine beiden Kinder in Corinnes leben, woraufhin Fitia fragt, ob es in seiner Heimat ebenfalls üblich sein, dass Männer allein auf Reisen gehen, und die Frauen allein zuhause bei den Kindern bleiben – wie bei den Kel Aschak eben. 


HALLDOR erzählt ihr, dass er etwas unerwartet auf diese Reise geraten sei, und es wohl noch eine Weile dauern werde, bis er sich bei seiner Familie melden könne. Fitia nickt verständnisvoll und erzählt ihm von den langen Reisen der Asad-Männer, wodurch Eheleute oft monatelang getrennt sind. Deshalb gebe es die Sitte, dass alles, was auf Reisen geschehe, auch auf Reisen bliebe. Das gleiche gelte für Ehefrauen, die allein im Lager zurückbleiben und diskreten Besuch empfingen. Sie selbst, erklärt sie dann, sei zwar verheiratet gewesen und habe zwei Söhne, habe sich dann aber von ihrem Ehemann getrennt, so dass sie zurzeit allein lebe. Während sie HALLDOR das erzählt, reicht sie ihm betont unauffällig eine Hand. Als HALLDOR die angebotene Hand nimmt und dann einen Kuss darauf haucht, blickt sie irritiert auf. Dann nimmt sie seine Hand und malt Zeichen in seine Handfläche. Sie bemerkt aber recht schnell, dass HALLDOR nicht versteht, was sie damit ausdrücken will. Also senkt sie die Stimme, und flüstert:  „Ich lade dich ein mich zu besuchen, wenn alle schlafen. Mein Zelt ist das östlich neben MARIEMMAs. Meine Kinder werden bei Verwandten schlafen, dann können wir ungestört reden. Ich liebe gute Geschichten, weißt du? Du kannst mir mehr über dich und deine Heimat erzählen, und über deine Abenteuer, oder was dir sonst noch einfällt. Jetzt trinken wir noch Tee, und dann muss ich gehen.“

Es ist ein leicht neckischer Unterton in ihrer Stimme, vielleicht auch ein Hauch von unausgesprochener Erwartung. Dann steht sie auf, und winkt Tamilla, ihr zu folgen. Tamilla zwinkert KORF zu, erhebt sich dann ebenfalls. Beide setzen sich zu Idrissa und Mohara, der sich eher bescheiden im Hintergrund gehalten und Tee gekocht hatte, als Fitia und Tamilla anderweitig beschäftigt gewesen waren. Nun nehmen sie die Teegläser entgegen, die Mohara herumreicht. Auch RASCHID, MARIEMMA und WEI LAN setzen sich dazu und trinken ebenfalls Tee. 

Es wird noch ein Weilchen geplaudert, während Mohara die rituellen drei Tee-Aufgüsse verteilt, dann sammelt Fitia ihr Teegeschirr wieder ein, und die drei verabschieden sich, wobei Tamila KORF schelmisch zublinzelt, während Fitia sich etwas diskreter verhält.

 

Nachdem die drei gegangen sind, bieten IDRISSA und MARIEMMA an, mit ihnen zu einem nahegelegenen Guelta zu gehen, damit sie baden können. Da WEI LAN lieber nicht mitgeht, um ihre Maskierung nicht aufgeben zu müssen, bleibt sie mit MARIEMMA im Lager und RASCHID, bleibt als Übersetzer ebenfalls dort.

 

Nachdem sich die Männer mit IDRISSA auf den Weg zum Guelta gemacht haben, nimmt RASCHID WEI LAN beiseite. „Ich denke, dies wäre eine gute Gelegenheit, MARIEMMA dein Geheimnis zu zeigen.“ schlägt er vor, und deutet auf die Gesichtsverhüllung der Kanthai. Nachdem diese sich einverstanden erklärt hat, folgen beide MARIEMMA in ihr Zelt, und stellen wieder die Palmblattmatten auf. Nachdem MARIEMMA WEI LAN aufmunternd zugenickt hat, entfernt diese zögernd ihre Gesichtsverhüllung. Kurz erschrickt MARIEMMA, dann wandelt sich ihr Blick zu Erstaunen, und schließlich stellt sie mit geradezu ehrfürchtiger Stimme eine Frage. RASCHIDS Blick wandert irritiert von MARIEMMA zu WEI LAN und wieder zurück. Nach kurzer Rücksprache mit MARIEMMA wendet er sich schließlich an die Kanthai:

„MARIEMMA fragt, ob du auch ein Enkel der Echse bist, wie es die Kel Tahore sind. Und bevor du fragst, ich verstehe auch nicht, was sie damit meint. Das Beste wird sein, wenn ich ihr erzähle, was wir im Lager meiner Familie besprochen haben.“ „Aber“ fragt WEI LAN irritiert „sind die Echsen nicht böse?“ „Du meinst die Arracht?“ fragt RASCHID und ist ziemlich überrascht, als MARIEMMA zu ihm herumwirbelt und ihn fragt, woher er dieses Wort kennt. Gemeinsam erzählen ihr RASCHID und WEI LAN von ihrer Begegnung mit den Arracht. Von MARIEMMA erfahren sie daraufhin, dass es vor unzähligen Generationen eine Arracht gab, die mit den Vorfahren der Kel Tahore befreundet war, und als ein Krieg ausbrach zwischen Menschen und Arracht, stellte sich diese eine Arracht auf die Seite der Kel Tahore und unterwies sie in all den Künsten, die heute noch die magischen Fähigkeiten der Enaden sind. Schließlich wendet sich RASCHID an WEI LAN:

„MARIEMMA sagt, es könnte doch sein, dass deine Drachen und ihre Echsen verwandt sind. Jedenfalls ist es ihr eine Ehre mit dir befreundet zu sein.“

 

Nachdem RASCHID und die Frauen ebenfalls das Guelta aufgesucht haben, treffen sich alle bei MARIEMMAS Zelt wieder und dann gehen MARIEMMA und IDRISSA wie verabredet zu ihren Eltern. Als die Gefährten unter sich sind, erzählen ihnen WEI LAN und RASCHID von MARIEMMAS überraschender Reaktion auf die Echsenhaut der Kanthai.

Als Abenddämmerung herein bricht gehen MARIEMMA und IDRISSA wie verabredet zu ihren Eltern um das Abendessen zu holen. Es gibt Fladenbrot, Hirsegrütze einen kräftig gewürzten Eintopf mit verschiedenen exotischen Gemüsesorten und Ziegenmilch. Danach verabschiedet sich IDRISSA, um bei seiner Familie zu essen und MARIEMMA lädt ihn ein, danach zurückzukommen.

Nachdem ISRISSA gegangen ist, erklärt RASCHID MARIEMMA, dass in Moravod weder Männer noch Frauen ihre Gesichter verhüllen, und dass dort Männer und Frauen gemeinsam essen.

„Schön“ nickt MARIEMMA verstehend und facht das erloschene Feuer wieder an.

„Dann seid meine Gäste und macht es euch bequem. Zumindest bis IDRISSA zurückkommt, denn er kennt das Geheimnis nicht“

Dann ziehen alle ihre Gesichtsverhüllungen herunter und widmen sich dem Essen, bis IDRISSA mit Teegeschirr zurückkommt und alle ihre Schleier wieder hochziehen.

Neuer Tee wird gekocht, es wird geplaudert, es werden Pläne geschmiedet, und RASCHID schreibt für IDRISSA moravische Schriftzeichen in den Sand. Und damit IDRISSA die Buchstaben auch zuordnen kann, schreibt er es in Asadi daneben.

 

M o r a v o d

G e l t i n 

G a s t h a u s

z u m

B e t t l e r s c h r e c k 



„Das ist die Adresse unseres Basislagers.“ erklärt er. „Es ist ein Gasthaus namens Bettlerschreck, in dem wir alle uns regelmäßig versammeln. Der Wirt ist ein Freund von uns. Wenn ihr uns erreichen wollt, dann schicke eine Nachricht dorthin, und er wird uns informieren, sobald wir von einer Reise zurückkommen. Es kann sein, dass es mehrere Monate dauert, bis wir die Nachricht erhalten, aber es ist der sicherste Weg, uns zu erreichen. Wenn du uns in Geltin besuchen willst, kannst du es auch den Stadtwachen zeigen, dann weisen sie dir den Weg.

Eifrig übt IDRISSA die fremden Schriftzeichen, und RASCHID ist erst zufrieden, als auch seine Gefährten lesen können, was IDRISSA geschrieben hat. Dann notiert er es sich noch auf einem Stück Leder.

Als sich rings um sie herum im Lager alle zur Nachtruhe begeben, geht MARIEMMA gehorsam zu ihren Eltern, HALDOR und KORF gehen zu ihren Verabredungen, während WEI LAN und RASCHID sich schlafen legen.

Am nächsten Morgen sind KORF und HALDOR wieder in MARIEMMAS Zelt, als wären sie die ganze Nacht über dort gewesen. Ihre Verabredungen haben ihnen klargemacht, dass man vor Sonnenaufgang zurück sein muss, um die nötige Diskretion zu wahren.

Kurz darauf kommt MARIEMMA – wieder in Männerkleidung, samt Turban und Schleier - zu den Gefährten zurück und bringt Frühstück für alle mit. Bei ihr sind IDRISSA und eine Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm. IDRISSA hat sein Teeservice mitgebracht.

„Meine Frau Taynat und unsere Tochter Tafsut.“ stellt er den Gefährten seine Familie vor.

 Nach einem eiligen Frühstück, packen dann alle ihre Sachen zusammen, verstauen MARIEMMAS Gepäck auf ihren Kamelen und machen sich bereit zum Aufbruch.

Die ganze Familie verabschiedet sich herzlich von MARIEMMA. Sogar ihre Mutter umarmt und segnet sie und IDRISSA fällt der Abschied besonders schwer. Dann steigen alle auf ihre Kamele, und RASCHID hilft MARIEMMA fürsorglich in den Sattel.

„RASCHID AG ARESCHAR!“ hören die Gefährten MARIEMMAs Mutter rufen und RASCHID richtet seine Kleider, zieht den Schleier bis dicht unter die Augen, und geht gemessenen Schrittes auf sie zu, als sie ihn zu sich heranwinkt. Als er vor ihr steht, und respektvoll zu Boden blickt, redet sie eindringlich auf ihn ein.

„Mutter sagt, da sie es nun nicht mehr ändern kann, vertraut sie ihm ihre Tochter an.“

dolmetscht IDRISSA mit Verwunderung und Rührung in der Stimme. 

„Mutter sagt, wenn MARIEMMA zu Hause wirklich so unglücklich ist, dass sie darauf besteht, in die Fremde zu gehen, dann soll sie lieber mit ihm gehen als ganz allein. Sie sagt, er soll gut auf sie aufpassen, und sie eines Tages gesund nach Hause zurückbringen.“

RASCHID schluckt trocken, bevor er antworten kann.

„RASCHID sagt, er schwört bei seiner Ehre als Kel Aschak, dass er alles in seiner Macht Stehende tun wird, damit MARIEMMA glücklich ist und jeden Tag so lächeln kann, wie an dem Tag, an dem er ihr sein Herz und sein Leben geschenkt hat. Und Mutter sagt, eines muss man ihm lassen, gute Manieren hat er.“ 

Übersetzt IDRISSA, während MARIEMMAs Mutter RASCHID näher zu sich heranwinkt. Als er sich verbeugt spricht sie einige feierliche Worte und legt ihre Hände auf seinen Kopf.

RASCHID schließt die Augen und ringt um Fassung. 

„Tenemert[1], Chadna Ult Adon,“ sagt er leise, mit bebender Stimme und zieht seinen Schleier so hoch, dass sogar die Augen verdeckt sind. „tenemert, teggit.“

IDRISSA reißt beeindruckt die Augen auf, während MARIEMMA von ihrem Kamel springt, und auf ihre Mutter zuläuft.

„Mutter sagt: Ormuts Segen über dich, RASCHID AG ARESCHAR. Mögen deine Reisen sicher sein.“

Übersetzt IDRISSA mit staunender Stimme. „und RASCHID bedankt sich bei ihr. Das tun Asad sonst nicht.“

Als MARIEMMAs Mutter ihre Hände von RASCHIDs Kopf nimmt und einen Schritt zurücktritt, fällt MARIEMMA ihr freudestrahlend um den Hals und umarmt sie glücklich, während RASCHID seine Augen wieder freilegt.

„Tenemert, Anna“ sagt MARIEMMA liebevoll und dankbar. „Tenemert, teggit[2].“

Dann tastet sie nach RASCHIDS Hand und legt ihre hinein. Beide verbeugen sich vor ihrer Mutter und gehen dann Hand in Hand zu den Gefährten zurück. Wieder hilft RASCHID MARIEMMA auf ihr Kamel, dann schwingt er sich selbst in den Sattel und hebt die Hand zum Aufbruch.

Und so reiten die Gefährten mit einem neuen Mitglied in ihrer Gemeinschaft weiteren Abenteuern entgegen.

Nach einem flotten Ritt erreichen die Gefährten am Ende des Tages das Reiseschloss am Rande des Sabil. Fasziniert starrt MARIEMMA auf die träge dahinfließenden Wassermassen des großen Flusses.

“Ormut asbuk“ flüstert sie überwältigt „Aman hullan“ und RASCHID übersetzt es für die Gefährten: „So viel Wasser.“

Bei einem Karawanenausrüster verkaufen sie MARIEMMAs Kamel, und besorgen ihr Fellstiefel, warme Kleidung und einen warmen Mantel.


WEITER BEIMIDGARD AKTUELL



[1]Flache Ebene, "das Land da draußen", wo niemand überleben kann

[2]Takuba = Schwert

[3]"Held" hier: jemand, der große Strapazen auf einer lebensgefährlichen Reise überstanden hat

[4]Erfindung von mir. Band mit silbernem Amulett, das man am Turban trägt. Junge Männer bekommen es, wenn sie zum ersten Mal große Strapazen auf einer lebensgefährlichen Reise überstanden haben. Vergleichbar mit Seeleuten, die Kap Hoorn umsegelt haben.

[5]Barar-i = Mein Sohn

[6]Amidi = Freund

[7]Imidiwen = Freunde

[8]Meine Freundin

[9]Aselsu i Asikel = Reisekleidung

[10]Aselsu i Ezeghal = Kleidung für Besuch

[11]Inuf = Geschenk

[12]Inuf i Tamidt in = Geschenk für meine Freundin

[13]Spiegel

[14]Turban mit Schleier

[15]Für die Reise


[1]danke

[2]Vielen Dank